Ein Land wartet auf den Wiederaufbau

Kathmandu · Bei dem schweren Beben der Stärke 7,8 in Nepal kamen im April 2015 mehr als 8700 Menschen ums Leben. Zehntausende wurden verletzt; zwei Millionen Familien haben ihre Wohnungen verloren. Der Wiederaufbau steht noch aus.

Mamata Kakri freut sich über eine Hacke und über Samen für Rüben, Rettich und Bohnen. Das hat sich die Nepalesin in dem Dorf Lamosanghu für ihren Gutschein der Hilfsorganisation Oxfam über umgerechnet rund 17 Euro gekauft. "Die Hacke brauche ich für die Feldarbeit", sagt die 28-jährige Mutter eines Sohnes. Das Gemüse will sie anpflanzen, um ihre Familie zu ernähren. "Was übrig bleibt, verkaufe ich, um Geld für Kochöl und Salz zu verdienen."

Zehntausende Erdbebenopfer sind bis heute auf Hilfsorganisationen angewiesen. Lamosanghu liegt im Distrikt Sindhupalchok, der besonders stark von dem schweren Beben vor einem Jahr heimgesucht wurde. Und ein Wiederaufbau der zerstörten Dörfer ist nicht in Sicht.

Zum Jahrestag der Katastrophe vom 25. April 2015 ziehen die Hilfsorganisationen Bilanz - zumindest, was die Größenordnung ihrer Hilfe angeht. Demnach haben Caritasverbände aus aller Welt 230 000 Betroffene in ganz Nepal mit lebenswichtigen Hilfsgütern wie Nahrungsmitteln und Zeltplanen versorgt. Die Entwicklungsorganisation Oxfam hat in den 14 Regionen zur Wiederherstellung der Wasserversorgung beigetragen, 40 000 Familien mit Hygiene-Kits versorgt und 5000 Latrinen gebaut. Nichts aber ist in den zwölf Monaten seit dem Beben beim Wiederaufbau passiert. "Es hat am politischen Willen gefehlt", sagte Pater Silas Bogati, Chef der Caritas Nepal.

Die Staatengemeinschaft stellte zwar mehr als vier Milliarden Dollar (3,5 Milliarden Euro) für den Wiederaufbau bereit, doch viele Opfer haben bislang außer einer zu Anfang ausgezahlten bescheidenen Summe nichts davon gesehen. Nach wie vor fehlt es in dem bitterarmen Himalaya-Staat auch an sicheren Unterkünften, Nahrung, Wasser, medizinischer Versorgung und Behelfsschulen. Geschätzte vier Millionen Menschen sind nach Angaben der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften noch immer in Notunterkünften untergebracht.

Menuka Rokaya war im sechsten Monat schwanger, als das Beben ihr Heim zum Einsturz brachte. Jetzt lebt sie mit ihrer Familie in einem Zelt in einem Lager in der Nähe des Flughafens Kathmandu . "Früher kamen hier Leute vorbei, um uns zu helfen", erzählt sie, während sie ihre kleine Tochter stillt. "Aber jetzt sind sie alle verschwunden." Die Familie überlebt von den umgerechnet knapp neun Euro, die ihr Mann am Tag als Teeverkäufer verdient. Mahlzeiten werden auf einem Kocher im Zelt zubereitet. Den Monsun und den Winter habe sie mit dem Baby mehr schlecht als recht überstanden, sagt Rokaya. Viele der Betroffenen lebten schon vor dem Beben von der Hand in den Mund.

Die Naturkatastrophe traf Nepals ohnehin schon schwache Wirtschaft mit ganzer Wucht. Zu allem Übel sorgte der Streit um eine neue nepalesische Verfassungsreform im Herbst über viele Wochen für Spannungen und Gewalt. Gegner des Projekts blockierten Übergänge an der Grenze zu Indien, wodurch die Zufuhr von Nahrungsmitteln und Treibstoff nach Nepal monatelang unterbrochen war. Einbrüche gab es auch bei der für Nepal wichtigen Einnahmequelle Tourismus. Durch das Beben ausgelöste Lawinen verschütteten am Mount Everest und im beliebten Trekking-Gebiet Langtang dutzende Bergsteiger und Wanderer. Die Folge: Potenzielle Nepal-Reisende sagten geplante Reisen ab oder buchten keine neuen.

Auch für Nepals reiches Kulturerbe war der massive Erdstoß ein schwerer Schlag. In Kathmandu sowie den nahen Königsstädten Bhaktapur und Patan, die ebenso wie weitere Anlagen im Kathmandu-Tal auf der Liste des Weltkulturerbes stehen, wurden mehrere Tempel und Statuen aus dem 12. bis 18. Jahrhundert beschädigt oder gar vollständig zerstört. Die Arbeiten zur Restaurierung der Tempelanlagen von Changu Narayan aus dem 5. Jahrhundert laufen, werden laut Behörden aber noch Jahre in Anspruch nehmen.

Nach monatelangem Parteiengezänk richtete die Regierung im vergangenen Dezember schließlich die schon im Juni angekündigte Wiederaufbaubehörde (NRA) ein. Ihre Aufgabe ist es, die Hilfsgelder zu verwalten und den Wiederaufbau zu koordinieren. Während die Regierung für jedes zerstörte Haus 2000 Dollar (1800 Euro) in Aussicht stellte, haben bislang weniger als 700 Familien die erste Rate von 500 Dollar erhalten.

Zum Thema:

Hintergrund Mit zahlreichen Gedenkgottesdiensten haben die Menschen in Nepal der etwa 9000 Todesopfer des gewaltigen Erdbebens vor einem Jahr gedacht. Sie stellten Fotos der Toten auf, zündeten Räucherstäbchen an und beteten. Das Himalaya-Land begeht den Jahrestag nach nepalesischem Kalender bereits am 24. statt am 25. April. In der Hauptstadt Kathmandu legten Premierminister K.P. Sharma Oli und andere Politiker gestern an den Ruinen des symbolträchtigen Dharahara-Turms einen Kranz nieder. Buddhistische Mönche beteten zusammen mit Angehörigen der Toten an der Stelle, an der einst der Kasthamandap-Tempel stand, eine der wichtigsten Pagoden Nepals. dpa

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort