Eidgenossen proben den Aufstand gegen Rechts

Bern · In Europa schwimmen die Rechtspopulisten auf einer Erfolgswelle. Die stark rechtsgerichtete SVP in der Schweiz hat den Bogen überspannt. Eine extreme Verschärfung des Ausländerrechts lehnen die Eidgenossen ab.

"Das ist eine Klatsche." Der Politologe Michael Hermann sieht die rechtspopulistische Schweizerische Volkspartei (SVP) nach ihrer spektakulären Niederlage bei der angestrebten Verschärfung des Ausländerrechts vor grundsätzlichen Strategie-Problemen. Die SVP habe jahrelang argumentiert, der direkte Volkswillen müsse Vorrang vor dem Parlamentswillen haben. Mit Volksabstimmungen speziell in der Ausländerfrage wollten die Rechtspopulisten die Eidgenossenschaft auf ihre Schiene zwingen. Das ist gestern unerwartet deutlich gescheitert. Das "Nein" zur SVP-Durchsetzungsinitiative und damit zu einer weiteren Verschärfung des Ausländerrechts hat die Schweiz vor einem weiteren Rechtsruck bewahrt.

Die Frage, ob kriminelle Ausländer künftig selbst bei minder schweren Delikten automatisch ausgewiesen werden sollen, hatte das Land elek trisiert und mobilisiert wie keine politische Debatte in den vergangenen 25 Jahren. In manchen Regionen betrug die Wahlbeteiligung 70 Prozent. "Eine Meinung zur Durchsetzungsinitiative wurde zur Pflicht", meinte der "Tages-Anzeiger". Eine Schlüsselrolle beim Widerstand gegen die SVP spielte die von rund 60 Nichtregierungsorganisationen getragene Plattform "Nein zur Durchsetzungsinitiative". Ihr gelang in den vergangenen 100 Tagen die Stimmungswende. Entsprechend stolz und erleichtert war die Galionsfigur der Bewegung, Flavia Kleiner: "Ein erstaunlicher Ruck ging durch die Gesellschaft. Sie hat einem destruktiven Populismus die Stirn geboten und große Selbstheilungskräfte bewiesen."

Im November 2015 waren noch 66 Prozent für den SVP-Vorstoß. Dann wurden die Argumente der SVP von der nicht partei-gesteuerten Zivilgesellschaft zunehmend hinterfragt. "Künstler, Studenten, Menschenrechtsaktivisten, aber auch ganz normale Bürger malten Plakate, veröffentlichten Videos und Aufrufe in den sozialen Medien, unterzeichneten Manifeste, verschickten Massenmails, demonstrierten, organisierten Veranstaltungen, schrieben Politiker und Journalisten an", beschrieb der "Tages-Anzeiger" den Aufstand von unten.

Die Kampagne deckte auf, dass die von der SVP angeprangerte Ausländerkriminalität vor allem auf das Konto der "Reisekriminellen" geht, die sich von einer drohenden Ausweisung nicht abschrecken ließen. Aufgerüttelt haben die Menschen auch die vielen Beispielfälle. Angesichts des Katalogs von 50 Delikten hätte eine Mutter ohne Schweizer Pass "ausgeschafft" werden müssen, wenn sie eine Falschangabe beim Kindergeld gemacht hätte.

Auch der Generalangriff der SVP auf die Rolle von Nationalrat und Ständerat wurde breit diskutiert. Bisher gießen die Abgeordneten die Ergebnisse des Volkswillens in Gesetze. Im Fall der Durchsetzungsinitiative - nach Auffassung der SVP nötig, weil eine frühere Initiative vom Parlament "verwässert" worden sei - wäre der Volkswille direkt zum Gesetz geworden. Richter hätten mangels Härtefall-Klausel auch keine Rolle mehr gespielt.

Doch wahr bleibt auch: Mit dem "Nein" wird nun eine Initiative von 2010 umgesetzt, die ebenfalls kriminellen Ausländern mit Ausweisung droht. Der Unterschied: Richter haben das letzte Wort und dank einer allerdings sehr eng gefassten Härtefallklausel einen gewissen Ermessensspielraum. Die Klausel darf nur zur Anwendung kommen, wenn das öffentliche Interesse an einer Ausweisung geringer wiegt als das persönliche Interesse des Betroffenen.

Der Erfolg lässt die Gegner der SVP, im Parlament stärkste Partei, Morgenluft wittern. "Engagement der Zivilgesellschaft statt der Parteien, dezentrale Kampagnen, die sich auch an politikferne Menschen richten, kluge Verbreitung über klassische und soziale Medien", hofft Peter Studer von der Initiative "Dringender Aufruf" auf eine Fortsetzung der Bewegung. Die Probe aufs Exempel ist absehbar. Die SVP will mit einer Selbstbestimmungsinitiative Schweizer Recht über Völkerrecht stellen lassen. "Die Verteidigung der rechtsstaatlichen Verfassung, welche die internationalen Abkommen einhält, die die Schweiz ratifiziert hat, geht nahtlos weiter", meint Kleiner.

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