Analyse Ursula von der Leyen muss wieder bangen

Straßburg · Ursula von der Leyen hat gekämpft. Jeden Tag. Mehrmals besuchte sie die Fraktionen des Europäischen Parlamentes. Bei den Mitarbeitern der Europäischen Kommission tauchte sie manchmal unangekündigt auf, darunter auch beim Frauennetzwerk der EU-Behörde.

 Die künftige Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen   Foto: Thierry Roge/BELGA/dpa

Die künftige Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Foto: Thierry Roge/BELGA/dpa

Foto: dpa/Thierry Roge

Selbst bei den Grünen in der europäischen Abgeordnetenkammer, die mit ihr noch nicht wirklich grün sind, heißt es, sie habe „regelmäßigen Kontakt“ gesucht. Alles für diesen Mittwoch, an dem nichts schiefgehen darf. Denn am Mittag steht die letzte Hürde auf dem langen Weg an die Spitze der Europäischen Union an: die Bestätigung ihres Teams durch die (einfache) Mehrheit der 751 Volksvertreter aus 28 Staaten.

Von der Leyen weiß, wie gefährlich es ist, etwas als sicher anzunehmen, solange es noch nicht sicher ist. „Dann wächst die Gefahr, dass die Unzufriedenen glauben, es käme auf ihre Stimme ja nicht an“, sagte ein Mitglied der christdemokratischen Fraktionsführung gestern. Dort weiß man, wovon man redet: Als sich weder das Parlament noch die Staats- und Regierungschefs auf einen der Spitzenkandidaten für den Chefsessel der EU-Kommission einigen konnten, zogen sie die da noch amtierende Bundesverteidigungsministerin aus dem Hut. Die legte im Parlament zwar eine von vielen hochgelobte Bewerbungsrede vor ihrer Wahl zur neuen Kommissionspräsidentin hin. Nach Ansicht einiger Christdemokraten aber geriet Von der Leyen dabei dermaßen ins „rotgrüne Abseits“, dass etwa 20 Abgeordnete aus den eigenen Reihen ihr die Stimme verweigerten. Zweifler gibt es in allen Fraktionen – es dürfte wieder knapp werden. Wie schon im Juli, als sie gerade mal neun Stimmen mehr als nötig einfahren konnte.

Dabei hat die erste Frau an der Spitze der Kommission viel versprochen. Nun wollen alle Taten sehen. Beispielsweise den „Green Deal“, ein Klimaschutzpaket, gegen das der deutsche Entwurf wie Kinderkram wirken solle. Schon in der kommenden Woche, so ist zu hören, werde Frans Timmermans, einer der drei neuen Ersten Vizepräsidenten, die Grundzüge vorstellen. An einem Plan für den europäischen Mindestlohn wird offenbar bereits gebastelt. Die digitale Agenda könnte nach der Weihnachtspause Mitte Januar folgen. In den ersten 100 Tagen sollen Pflöcke eingeschlagen werden. Das trauen viele der 61-jährigen CDU-Politikerin zu. Trotzdem basteln Von der Leyens Mitarbeiter weiter am Image ihrer Chefin und streuen Info-Schnipsel, die das Bild einer hart arbeitenden Frau zeigen sollen. Um neun Uhr treten die zwölf bis 15 Mitarbeiter zu einer ersten 20-minütigen Lagebesprechung an – stehend, damit keine Plauderstimmung aufkommt. Dann wird intensiv geschafft, um 18 Uhr die letzte Besprechung des Tages. In Brüssel wohnt sie neben ihrem Büro, eine eigene Wohnung gibt es nicht. Die Chefin von 35 000 Mitarbeitern und einem Jahresgehalt von 335 000 Euro brutto arbeitet, geht ins Bett, arbeitet weiter.

Doch von der Leyens beeindruckendes Engagement kann ihr größtes Problem nicht lösen: Ihr fehlt eine Mehrheit im Europäischen Parlament. Alle Versuche, die großen Fraktion in der politischen Mitte wie bisher zu einer festen Zusammenarbeit zusammenzuschweißen, sind misslungen. In den vergangenen Wochen bemühten sich die beiden Von-der-Leyen-Stellvertreter Frans Timmermans und Margrethe Vestager, verlässliche Mehrheiten anzubahnen. Sie scheiterten. Das bedeutet: Die designierte Kommissionspräsidentin muss für jede Entscheidung um ausreichende Unterstützung werben. Ursula von der Leyen bangt an diesem Mittwoch zum zweiten Mal um eine Mehrheit. Es könnte für sie der Normalfall werden.

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