Drei getötete Kinder pro Woche

Berlin/Saarbrücken · Ausgerechnet am internationalen Kindertag werden schockierende Zahlen vorgestellt: Die neue Polizeistatistik zeigt, dass Gewalt gegen Kinder in Deutschland tausendfach vorkommt – oft auch mit tödlichen Folgen.

 Gräber für die Kleinsten – von den 130 getöteten Kindern im vergangenen Jahr waren nach Angaben des Bundeskriminalamtes 85 noch unter drei Jahren. Foto: Pilick/dpa

Gräber für die Kleinsten – von den 130 getöteten Kindern im vergangenen Jahr waren nach Angaben des Bundeskriminalamtes 85 noch unter drei Jahren. Foto: Pilick/dpa

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Die Pflegekräfte auf der Intensivstation der Kinderklinik auf dem Saarbrücker Winterberg sind erschüttert, manche den Tränen nahe: Gerade einmal drei Kilo wiegt der neun Monate alte Säugling auf dem Behandlungstisch vor ihnen. Wie Pergamentpapier spannt sich die fast durchsichtige Haut über seine zerbrechlichen Knochen. Bewusstlos ist er eingeliefert worden, dem Tode schon sehr nah. Der Säugling wurde von seiner Mutter über einen längeren Zeitraum weder gefüttert noch gepflegt. Rettungssanitäter haben das Baby aus einer vermüllten Zweizimmer-Wohnung in Alt-Saarbrücken geholt, nachdem die Großmutter des Jungen den Notarzt gerufen hatte. Es war Rettung in letzter Minute an jenem Tag Anfang Januar 2010.

Es war ein spektakulärer Fall, über den noch Wochen später diskutiert wurde. Doch Gewalt gegen Kinder - auch in Form massiver Vernachlässigung - ist kein Einzelfall, vielmehr kommt es tagtäglich zu schlimmsten Übergriffen gegen die kleinsten und vielleicht wehrlosesten Mitglieder unserer Gesellschaft. Das wird einmal mehr deutlich, als der Vorsitzende der Deutschen Kinderhilfe, Rainer Becker, in Berlin die Polizeistatistik zu den "kindlichen Gewaltopfern" vorstellt. An diesem Mittwoch ist Internationaler Kindertag - "eigentlich ein Anlass zur Freude und zur Fröhlichkeit", sagt er. Doch 2015 gab es 130 Kindstötungen in Deutschland, 22 mehr als im Jahr davor - darunter 16 Morde und 38 Totschlagsdelikte.

Auch im Saarland wurden im vergangenen Jahr drei Tötungsopfer gezählt - noch keine sechs Jahre waren der Junge und die beiden Mädchen alt. Im Jahr zuvor waren zwei Kinder getötet worden. Rückgängig war indes die Zahl der Misshandlungen Schutzbefohlener: 43 Fälle listet die Statistik in diesem Bereich im Saarland auf (2014: 62), Vergewaltigungen von Kindern wurden keine erfasst (2014: drei Fälle). Einen Fallrückgang verzeichneten die Statistiker auch im Bereich Besitz oder Beschaffung von kinderpornografischem Material. Hier wurden 36 Fälle registriert (2014: 60), 48 Täter haben im Saarland solches Material verbreitet (2014: 52). Keinen Rückgang gab es indes beim sexuellen Missbrauch, wo die Fallzahl von 121 im Vorjahr auf 162 hochschnellte.

Bundesweit waren 85 getötete Kinder jünger als drei Jahre, betont Becker. "Und das ist eigentlich verwunderlich. Denn wir haben seit Einführung des Bundeskinderschutzgesetzes, insbesondere in den frühen Hilfen, in die Unterstützung von Familien mit Kindern unter drei Jahren investiert. Das ist natürlich eine Schere, die auseinanderklafft." Ist also angesichts von Fällen wie eingangs geschildert womöglich viel gut gemeinter Aktionismus im Spiel, der am Ende verpufft? Kinder-Lobbyist Becker sieht jedenfalls Nachbesserungsbedarf seitens der Politik, etwa bei der Evaluation des Kinderschutzes. "Mehr Geld und Zeit für Qualität" ist nur einer der Punkte seines Forderungskatalogs.

Für das nüchterne Zahlenmaterial ist in Berlin der Chef des Bundeskriminalamtes, Holger Münch, zuständig. "Wir werden nicht nachlassen, die Täter zu schnappen", lautet seine Botschaft. Münch sagt aber auch, dass die Dunkelziffer der Verbrechen jenseits der jährlich registrierten Tötungsdelikte an unter 14-Jährigen sehr hoch ist, auch bei Kindesmisshandlungen und Kindesmissbrauch. Gerade im familiären Umfeld werde solche Gewalt, gerade auch Sexualstraftaten, häufig verborgen - ob aus Scham oder falscher Solidarität mit Verwandten.

Die Koblenzer Pädagogik-Professorin Kathinka Beckmann bezeichnet Gewalt gegen Kinder in Deutschland daher als "Alltagsphänomen". Und nennt drei Zahlen als Beleg: "Drei tote Kinder pro Woche, elf misshandelte und 38 von sexueller Gewalt geschädigte pro Tag." Als "Baustellen" nennt sie eine eklatante Unterversorgung mit sogenannten Familienhebammen in jedem zweiten Jugendamtsbezirk und die unzureichende Zahl von Hausbesuchen bei Gefährdungsmeldungen. "17 Prozent der als gefährdet eingeschätzten Kinder haben keinerlei Kontakt mit einem Mitarbeiter des Jugendamtes", erklärt Beckmann.

"Das Ideal, dass Kinder ohne Gewalt aufwachsen sollen, ist in der Bevölkerung angekommen", sagte kürzlich die stellvertretende Geschäftsführerin beim Deutschen Kinderschutzbund, Cordula Lasner-Tietze. "Die tatsächliche Realität in den Familien sieht aber anders aus." Erschreckenderweise gebe es noch immer "keinerlei Indizien, dass die Zahl der unter Gewalterfahrungen leidenden Kinder im Sinken ist". Die Polizeistatistik bestätigt dies nun aufs Neue. Auch im Saarland.

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