Politikerinnen wollen nicht mehr kandidieren Digitale Gewalt gegen britische Abgeordnete

London · Drohungen, Beleidigungen, Einschüchterungen: Vor der Parlamentswahl in Großbritannien machen weibliche Abgeordnete ihre Sorgen öffentlich. Und ziehen Konsequenzen.

 Will nicht mehr kandidieren: Die britische Kulturstaatsministerin Nicky Morgan hat eine enorme Veränderung bei den Beleidungen festgestellt.

Will nicht mehr kandidieren: Die britische Kulturstaatsministerin Nicky Morgan hat eine enorme Veränderung bei den Beleidungen festgestellt.

Foto: dpa/Andy Rain

Morddrohungen und Beleidigungen, sexistische und rassistische Sprüche über soziale Netzwerke und E-Mails: Britische Abgeordnete sehen sich im aufziehenden Wahlkampf schweren Anfeindungen ausgesetzt. Das hat Folgen – Politikerinnen aller Lager haben bereits angekündigt, bei der Parlamentswahl am 12. Dezember wegen ständiger Drohungen nicht wieder zu kandidieren. Selbst Kinder würden bedrängt, klagten Abgeordnete.

Sie sei „erschöpft von der Invasion meines Privatlebens sowie den Gemeinheiten und Einschüchterungen, die alltäglich geworden sind“, schrieb Heidi Allen von den Liberaldemokraten. Prominenteste Stimme ist Kulturstaatsministerin Nicky Morgan. Die Beleidigungen hätten sich „enorm verändert“ und eine starke Wirkung auf ihre Familie, begründete die konservative Politikerin ihren Rückzug.

Großbritannien ist kein Einzelfall: Auch in Deutschland denken viele Politikerinnen wegen digitaler Gewalt ans Aufhören, wie jüngst eine Umfrage des ARD-Magazins „Report München“ ergab. Für Aufsehen sorgte zudem eine Entscheidung des Berliner Landgerichts, nach der die Grünen-Abgeordnete Renate Künast nicht juristisch gegen Beschimpfungen auf Facebook vorgehen darf. Unbekannte hatten Künast drastisch beschimpft und auch sexistische Posts geschrieben.

Fast genau 100 Jahre ist es her, dass Nancy Aston Ende 1919 als erste Frau einen Parlamentssitz in Westminster einnahm, gegen Widerstände ihrer Kollegen. Frauen haben das Schicksal des Landes entscheidend mitgeprägt. Königin Elizabeth II. genießt Respekt durch alle Gesellschaftsschichten. Margaret Thatcher und Theresa May waren Premierministerinnen in wichtigen Zeiten. Und Lady Di wird auch zwei Jahrzehnte nach ihrem tragischen Tod in Paris als Ikone verehrt. Doch nun entlädt sich die digitale Wut auffällig oft gegen Frauen.

Als Hauptgrund für die gestiegene Zahl persönlicher Angriffe gilt die mit aller Härte geführte Diskussion um den Brexit. Seit Jahresbeginn zählten Beobachter Hunderttausende Beleidigungen über soziale Netzwerke gegen Politiker aller Lager. Mehrere Schreiber anonymer Drohbriefe wurden entlarvt und zu monatelanger Haft verurteilt, doch die Attacken dauern an. Mehr als drei Jahre nach dem Mord an der Sozialdemokratin Jo Cox ist von Zurückhaltung keine Spur.

„Jo Cox war die Erste, du bist als nächste dran“, lautet ein mit derben Beschimpfungen gespickter anonymer Brief, den die unabhängige Abgeordnete Anna Soubry, die eine Gruppe proeuropäischer ehemaliger Tory- und Labourpolitiker anführt, bekam. Ihr Lebensgefährte erhielt ein Beileidsschreiben, weil „dein verräterischer Partner bald verschwunden sein wird“.

Einige Politikerinnen berichten, die Polizei habe ihnen empfohlen, abends nicht mehr alleine unterwegs zu sein und ihren Aufenthaltsort nicht öffentlich zu machen. Labour-Politikerin Rosie Duffield zeigte Verständnis für die Warnungen: „Das ist schockierend, aber wir sind mittlerweile daran gewöhnt, es ist Teil unseres Alltags“, sagte sie dem Sender ITV.

Bereits vor einem halben Jahr hatte Londons Polizeichefin Cressida Dick mitgeteilt, es gebe einen „äußerst signifikanten Anstieg“ von Drohungen gegen Parlamentarier, vor allem gegen Frauen sowie gegen Schwarze, Asiaten und andere ethnische Minderheiten. Häufigstes Ziel von Drohbotschaften ist die prominente Labour-Abgeordnete Diane Abbott. Die schwarze Politikerin hat seit Jahren unter Angriffen zu leiden: Gegen sie richtete sich vor der Parlamentswahl 2017 fast die Hälfte aller beleidigenden Tweets gegen Abgeordnete, wie die Menschenrechtsorganisation Amnesty International analysiert hat.

Bisher haben rund 60 Abgeordnete – weniger als vor früheren Abstimmungen – angekündigt, nicht mehr zu kandidieren. Davon sind etwa ein Drittel Frauen, das entspricht dem Frauenanteil im House of Commons. Soweit die Statistik. Die Liberaldemokratin Sarah Wollaston wies jedoch darauf hin, dass die weiblichen Abgeordneten, die auf ihren Sitz verzichten, diesmal jünger und noch nicht lange im Parlament vertreten seien.

 Bekam einen mit Drohungen und Beschimpfungen gespickten Brief: Anna Soubry, die eine Gruppe proeuropäischer Politiker anführt.

Bekam einen mit Drohungen und Beschimpfungen gespickten Brief: Anna Soubry, die eine Gruppe proeuropäischer Politiker anführt.

Foto: dpa/Stefan Rousseau

Ihre konservative Kollegin Caroline Spelman legte nach. In der Times betonte die konservative Parlamentarierin, es sei nicht verwunderlich, dass so viele Frauen abträten: „Sexuell aufgeladene Rhetorik hat bei der Online-Beleidigung weiblicher Abgeordneter zugenommen, mit Drohungen, uns zu vergewaltigen und unter Bezug auf unsere Genitalien.“ Der Chef der Konservativen, James Cleverly, schrieb auf Twitter: „Zu hören dass so viele tolle Kollegen, vor allem Frauen, das Parlament wegen Online- und physischer Misshandlungen verlassen, ist herzzerreißend.“ Doch gerade dem konservativen Premierminister Boris Johnson wird vorgeworfen, die Stimmung zu vergiften. So hatte Johnson Todesdrohungen gegen Abgeordnete als „Humbug“ verspottet – sogar seine Schwester kritisierte ihn deswegen. Der Erzbischof von Canterbury, Justin Welby, rügte, der Premier schütte mit „aufrührerischer Sprache“ Öl in die aufgeheizte Brexit-Debatte.

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