Die Ukraine bleibt ein zerrissenes Land

Kiew. Darnizki ist ein Stadtteil von Kiew, in dem keiner so recht sein will und doch fast 300 000 Menschen leben. Sie tun es, weil hier dieses Leben günstig ist, weil die Wohnungen bezahlbar sind, und ja, weil es auch für die Kinder etwas gibt. Spielplätze, Fahrradwege, ein paar Nachmittagsgruppen, wo die Kleinen sticken lernen oder singen

Janukowitschs Unterstützer bejubelten mit Nationalflaggen den Sieg seiner "Partei der Regionen". Foto: Dolschenko

Kiew. Darnizki ist ein Stadtteil von Kiew, in dem keiner so recht sein will und doch fast 300 000 Menschen leben. Sie tun es, weil hier dieses Leben günstig ist, weil die Wohnungen bezahlbar sind, und ja, weil es auch für die Kinder etwas gibt. Spielplätze, Fahrradwege, ein paar Nachmittagsgruppen, wo die Kleinen sticken lernen oder singen. Darnizki ist so wie viele Außenbezirke im sowjetischen Raum es waren und auch jetzt im postsowjetischen noch sind. Hier reihen sich 20-stöckige Häuser an 30-stöckige, hier sind die Straßen breit und die Supermärkte riesig. Überdimensionierte Plakate verheißen einen Urlaub in Spanien, die Wege sind manchmal schlammige Pfade. Die Ukraine ist voll von Darnizkis.Die 19-jährige Vika wohnt in Darnizki, mit Baby und Mutter in einer Einzimmerwohnung. Vor der Vorschule schaukelt sie die Tochter, "irgendwie ein ungeplantes Kind". Einer Vorschule, die zum Wahllokal umfunktioniert wurde, wo Vika ihr Kreuz gemacht hat - für "Swoboda" ("Ich wollte mal etwas gegen Mama tun"), und ihre Mutter auch - für die "Partei der Regionen" ("Ich will nicht schon wieder etwas Neues"). Mutter und Tochter in Darnizki zeigen das Erwartete und das Unerwartete dieser Parlamentswahl in der Ukraine an. Während die Regierungspartei um den umstrittenen Präsidenten Viktor Janukowitsch ihren Sieg preist und sich als einigende Kraft rühmt, zeigt der überraschende Einzug der Nationalisten um den offen xenophoben und antisemitischen Parteiführer Oleg Tjagnibok in die Werchowna Rada gerade, dass es diese Einigkeit im Volk nicht gibt.

Fünf Parteien ziehen ins Parlament ein, das belegen nun auch die ersten offiziellen Zahlen, wenn sie auch etwas von den Wählerbefragungen am Wahlabend abweichen. Zusammengenommen vereinen die Antiregierungsparteien allerdings mehr Stimmen auf sich als die sich feiernde "Partei der Regionen". Zahlenmäßig hat sie zwar gewonnen, die große Zustimmung im Volk aber eingebüßt, mag Janukowitsch noch so sehr die Einheit postulieren. Die OSZE spricht von demokratischem Rückschritt. Oppositionsführerin Julia Timoschenko trat aus Protest gegen Wahlbetrung und Wahlfälschungen in einen Hungerstreik. Timoschenko nehme seit gestern nur noch Wasser zu sich, sagte einer ihrer Anwälte.

"Diese Wahl war eine Protestwahl", sagt Wladimir Fessenko, Direktor am Penta-Zentrum für angewandte politische Studien in Kiew. Das zeigten vor allem die acht Prozent Zustimmung für die Nationalisten von "Swoboda". Die "Freiheit", so die deutsche Übersetzung der Bewegung, ist vor allem im Westen der Republik aktiv, setzt sich für die Abschaffung alles Sowjetischen in der Ukraine und die Stärkung ethnischer Ukrainer ein. Ihr Kopf Tjagnibok poltert gern über die "jüdische Mafia an der Spitze des Staates" und sieht sein Land stets besetzt - "von Russen, Deutschen, Juden".

Bedenklich findet Fessenko die Zustimmung für die populistischen Politiker nicht. "Es zeigt weniger die nationalistische Atmosphäre im Land als vielmehr die Antihaltung der Menschen gegenüber all den bekannten Akteuren. ,Swoboda' ist für viele das, was früher die Zeile ,gegen alle' hieß", meint Fessenko.

Unangenehm dürften die Ultrarechten dennoch werden für Janukowitschs Partei. Tjagnibok hat bereits angekündigt, als Erstes einen Antrag für ein Verbot der Kommunisten einzubringen. Nach offiziellen Zahlen sind sie in der Ukraine aber die drittstärkste Kraft und werden wie bisher als Koalition mit der "Partei der Regionen" regieren. "Swoboda" werde dem Parlament mehr Skandale bescheren, weil sie es gern zu einem Platz für antirussische Parolen verwandeln würden, sagt der Politologe. "Sie werden so etwas wie der Pfeffer in der Polit-Borschtschsuppe sein, sie gar verpfeffern." Damit dürften sie sich auch in der breiten Masse keine Freunde machen. Denn antirussisch sind die wenigsten Ukrainer, auch wenn sie stets auf Distanz zum großen Nachbarn gehen. Auch Janukowitsch dürfte weiter zwischen Russland und der EU lavieren. In Darnizki träumen sie unterdessen viel von Europa, auch Vika, während Flugzeuge über ihren Kopf hinwegdüsen. Viele von ihnen gen Westen. "Diese Wahl war

eine Protestwahl."

Politikwissenschaftler

Wladimir Fessenko

Meinung

Zwischen Ost und West

Von SZ-MitarbeiterinInna Hartwich

Die Beobachter von der OSZE finden klare Worte: Die Parlamentswahl in der Ukraine sei unfair verlaufen, der Wahlgang ein demokratischer Rückschritt. Das ist deutlich - und richtig in einem Land, wo der mächtige Präsident politische Rache an seinen Widersachern übt, wo die Auswahl schon deshalb beschränkt ist, weil diese Widersacher gar nicht erst zur Abstimmung antreten dürfen. Europa muss den autoritären Ruck der Ukraine weiter anprangern. Und das ohne Angst zu haben, Viktor Janukowitsch könne zum großen russischen Nachbarn überlaufen. Davon ist der ukrainische Staatschef weit entfernt.

Vielmehr wird die Ukraine weiter zwischen der EU und Russland lavieren. Es liegt jetzt vor allem an der Opposition, zur gemeinsamen Stärke zu finden, um die Pluralität im Land zu erhalten.