Nach der Explosion in der libanesischen Hauptstadt Die Apokalypse von Beirut

Beirut · Eine schwere Explosion im Hafen der Hauptstadt stürzt die Menschen in Verzweiflung. Ohnehin leidet der Libanon unter einer Wirtschaftskrise.

 Verletzte, Tote, Heimatlose: In Beirut hat die massive Detonation im Hafen das Leiden vieler Libanesen noch verschärft. Die Stadt steht unter Schock.

Verletzte, Tote, Heimatlose: In Beirut hat die massive Detonation im Hafen das Leiden vieler Libanesen noch verschärft. Die Stadt steht unter Schock.

Foto: AP/Hassan Ammar

Die Einwohner Beiruts sind Kummer gewohnt. Doch die Explosion im Hafen der Stadt am Mittelmeer war so mächtig, dass sie alles in den Schatten stellt, was die Menschen bislang erlebt haben. Die Bilder und Videos von der Detonation erinnern an den Abwurf einer Atombombe. Ein riesiger Pilz aus Staub schießt am Dienstag in den Himmel. Die Druckwelle ist so gewaltig, dass sie Hochhäuser zerstört, Autos zertrümmert und Menschen zu Boden schleudert. Zurück bleibt ein Bild der Verwüstung. Und eine Stadt unter Schock.

Der Hafen, die Lebensader des Landes, liegt zu großen Teilen in Schutt und Asche. Auch die angrenzenden Wohngebiete, darunter Beiruts berühmte, beliebte und oft belebte Ausgehviertel, sind zerstört. Kein Haus bleibt ohne Schäden. Selbst in Orten rund 20 Kilometer von Beirut entfernt gingen Fensterscheiben zu Bruch.

Auch die Opferzahl ist verheerend: Mindestens 135 Menschen starben, etwa 5000 wurden verletzt. Beiruts Gouverneur Marwan Abbud schätzt, dass bis zu 250 000 Einwohner ihre Wohnungen verloren haben. Der Politiker war so verzweifelt, dass es bei einem Besuch am Unglücksort vor laufender Kamera kurz in Tränen ausbrach. Ein Geruch von Tod und Blut liegt auch noch am Mittwoch, einen Tag nach der Explosion, über der Stadt. Menschen fegen die Scherben zusammen, die überall auf den Straßen liegen. Manche sprechen von einer „Apokalypse“. „Wir haben einen Bürgerkrieg erlebt, wir haben schon früher Bomben gehört“, sagt der Ingenieur Sam Saidan in der Nähe des Hafens. „Aber nichts war wie das hier.“ Auch Mohammed al-Hadsch, Besitzer eines kleinen Ladens, klagt: „Wir erleben ohnehin schlimme Zeiten. Und das kommt jetzt auch noch obendrauf.“

Schon vor der Explosion war die Wut der Menschen auf die libanesische Machtelite groß. Jetzt ist sie noch weiter gewachsen. Eine Frau, die auf ihrem beschädigten Balkon steht, weint und brüllt: „Präsident, Regierung und Parlament sollten sofort zurücktreten.“

In den Kliniken spielten sich Szenen der Verzweiflung ab. Das ohnehin geschwächte Gesundheitssystem des Landes war mit der Versorgung einer so großen Zahl von Opfern überfordert. Ein älterer Mann saß am Dienstagabend vor dem Krankenhaus der Amerikanischen Universität und wartete auf eine Behandlung, der Körper mit Blut bedeckt. „Ich war in der Küche am Kochen, als ich plötzlich in Richtung des Wohnzimmers geschleudert wurde“, erzählt er. „Erst dachte ich an ein Erdbeben. Meine Wand stürzte ein, Glassplitter fielen auf mich herab.“

Offenbar gab es im Hafen zunächst eine erste Explosion, gefolgt von kleineren, wie bei einem Feuerwerk. Auf Videos ist eine Rauchwolke zu sehen, die aufsteigt. Feuer bricht aus. Dann folgt die zweite, verheerende Detonation, die die massiven Schäden anrichtet. Eine Frage überschattet alles: Wie konnte es zu dieser gewaltigen Explosion kommen? Schnell verbreiteten sich Gerüchte, das verfeindete Nachbarland Israel habe die libanesische Schiitenorganisation Hisbollah bombardiert. Dafür gibt es aber keine Hinweise. Auch gibt es derzeit keine Anhaltspunkte für einen möglichen politischen Hintergrund oder einen Anschlag. Ausgeschlossen ist dies aber nocht nicht. Vieles spricht derzeit für ein Unglück in Folge von Fahrlässigkeit. Möglicherweise wurde die Explosion durch eine große Menge Ammoniumnitrat ausgelöst, die seit Jahren im Hafen von Beirut gelagert worden sein soll. Genaues soll eine Untersuchung der Detonation ergeben.

Der Libanon ist ohnehin ein geplagtes Land. Erst brach eine Wirtschaftskrise über die Menschen herein, die schlimmste seit dem Ende des 15-jährigen Bürgerkrieges vor rund 30 Jahren. Dann verschärfte die Corona-Pandemie die Lage noch weiter. Die nationale Währung, das libanesische Pfund, ist abgestürzt. Große Teile der Bevölkerung sind unter die Armutsgrenze gerutscht und wissen nicht mehr, wie sie sich und ihre Familien ernähren sollen. Sie geben dafür einer korrupten Machtelite die Schuld, die sich dem Vorwurf ausgesetzt sieht, das Land hemmungslos geplündert zu haben.

Beobachter warnen nun vor weiteren Versorgungsengpässen. Der Libanon hängt stark von Lieferungen aus dem Ausland ab, die in erheblichem Maße über den jetzt zerstörten Hafen liefen. „Diese Explosion ist der Sargnagel für die Wirtschaft des Libanons und für das Land im Allgemeinen“, prophezeit der Analyst Makram Rabah. Die Menschen könnten ihre Häuser nicht wieder aufbauen, weil ihnen das Geld fehle. In Beiruts Hafen seien unter anderem Getreidesilos zerstört worden. „Wenn wir uns die Zerstörung dieser Silos anschauen, dann bedeutet das, dass wir auf eine Hungerkrise und Engpässen bei Brot zusteuern.“

Unterdessen schickten mehrere Länder Unterstützung nach Beirut. Über den EU-Krisenmechanismus machte sich unter anderem aus den Niederlanden ein Team aus 70 Spezialisten auf den Weg. Frankreich schickte zwei Militärflugzeuge mit 55 Angehörigen des Zivilschutzes und tonnenweise Material zur Behandlung von Verletzten. Tschechien schickte ein Team, das auf die Bergung von Verschütteten spezialisiert ist. Auch Griechenland und Zypern schickten Rettungsmannschaften mit Spürhunden. Russland schickte fünf Flugzeuge mit Ärzten und einem mobilen Krankenhaus. Die Türkei sendet Helfer der Katastrophenschutzbehörde und des Roten Halbmonds, zudem plant sie die Errichtung eines Feldlazaretts.

Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte dem libanesischen Regierungschef Hassan Diab in einem Kondolenzschreiben ebenfalls Unterstützung zu. Das Auswärtige Amt richtete einen Krisenstab ein. 

Auch Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu drückte den Menschen im Libanon sein Mitgefühl aus und bot dem Nachbarlandhumanitäre Unterstützung an, „von Mensch zu Mensch“. Offiziell befinden sich die Länder noch im Krieg.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort