Die Rückkehr des allmächtigen Sultans

Istanbul · Seit gestern berät das Parlament der Türkei über die Reform, die Präsident Erdogan den Weg zur uneingeschränkten Macht ebnet. Das Volk wird von unbequemen Realitäten abgeschirmt – ein Land auf düsterem Kurs.

Eigentlich hätten die Türken bei der Neujahrsansprache ihres Ministerpräsidenten vom Sofa fallen müssen. Die Türkei werde auch im neuen Jahr "die friedenstiftende Rolle in der Region und der Welt spielen, für die sie bekannt ist", versprach Binali Yildirim seinen Landsleuten. Sie werde "ihre stabile Demokratie und ihren Rechtsstaat bewahren" und ihren Stern noch heller strahlen lassen, sodass "die ganze Welt über die Erfolge unserer Nation sprechen wird".

Während die Regierung von strahlenden Sternen spricht, kämpft die Türkei im Inneren des Landes gegen die PKK und ist außerhalb ihrer Grenzen in die Kriege von zwei Nachbarstaaten - Syrien und Irak - verstrickt. Zu einem Nachbarland - Armenien - ist die Grenze geschlossen, mit einem anderen - Griechenland - streitet sie sich noch immer um die Grenzziehung. Ihre Städte werden von einem Terroranschlag nach dem anderen erschüttert, und von Rechtsstaat kann derzeit ohnehin keine Rede sein, weil der Ausnahmezustand gilt und es keine Rechte mehr gibt.

Unter dem Schatten des Ausnahmezustands nahm das Parlament in Ankara gestern die Debatte über die Verfassungsänderungen zur Einführung des von Staatschef Recep Tayyip Erdogan angestrebten Präsidialsystems auf. Mehr Stabilität und Sicherheit verspricht die Regierung den laut Umfragen sehr skeptischen Bürgern durch das neue System - dabei kann Erdogan schon seit dem vergangenen Sommer per Dekret und ohne Parlament regieren, ohne dass er die tödliche Gewaltwelle im Land hat stoppen können. Die Opposition wiederholte bei der Debatte ihre Warnung vor Gefahr. Der Abgeordnete Bülent Tezcan von der oppositionellen CHP mahnte, mit den Plänen würde "dem Palast" die Macht zurückgegeben, die dem osmanischen Sultan vor hundert Jahren durch die konstitutionellen Reformen genommen wurde. "Es wird die Abschaffung all dessen sein, was die Republik erreicht hat", und einer "Ein-Mann-Diktatur" den Weg bereiten, kritisierte Tezcan.

Dass Yildirim in einer solchen Situation von Demokratie und Weltruhm reden kann, illustriert nicht nur den Realitätsverlust der Regierung. Es zeigt auch, wie schwer es für die türkischen Bürger geworden ist, sich fundiert zu informieren und ein vernünftiges Urteil über die Entwicklungen in ihrem Land und in der Welt zu bilden. Dank Politikern im Verfolgungswahn, korrupter Medien und drakonischer Zensur irren viele Türken durch die Realität wie durch ein Spiegelkabinett - und zwar eines, das aus lauter Zerrspiegeln besteht.

Die Verzerrung beginnt damit, dass Politiker wie Erdogan alternative Realitäten erfinden, ohne diese belegen zu müssen - sie gehen einfach durch ständige Wiederholung in den nationalen Wissensschatz ein. Dass der Prediger Fethullah Gülen den Putschversuch vom letzten Sommer einfädelte, gilt in der Türkei als so klarer Fall, dass der parlamentarische Ermittlungsausschuss nicht einmal die Hauptakteure anhören wollte - der Präsident hatte den Schuldigen ja schon ausfindig gemacht. Und dass die USA, Europa und/oder Israel sowohl hinter der PKK stecken als auch hinter Gülen und dem Islamischen Staat, wie Regierungspolitiker das gerne behaupten, wird öffentlich kaum mehr in Frage gestellt.

Auch in anderen Ländern gaukeln Politiker den Wählern gerne etwas vor. So behauptete der werdende US-Präsident Donald Trump schon vor Monaten, sein Vorgänger Barack Obama habe den Islamischen Staat gegründet - lange bevor Erdogan in der vergangenen Woche einen ähnlichen Vorwurf erhob. Der Unterschied ist, dass die Amerikaner sich aus seriösen Quellen über die Wahrheit informieren können. In der Türkei sind viele Zeitungen und Fernsehsender aber längst auf Erdogans Linie - wenn sie nicht verboten sind.

Die wenigen verbliebenen Oppositionszeitungen geben sich redliche Mühe, allen voran die linke "Evrensel" und die bürgerliche "Cumhuriyet". Allerdings pflegt auch die Opposition einen lockeren Umgang mit der Wahrheit, mit dem sie sich keinen Gefallen tut. Der inhaftierte Journalist Ahmet Sik habe drei Tage lang kein Wasser bekommen, empörten sich die Oppositionsmedien am Wochenende. Doch Sik war nicht in Lebensgefahr - er hatte nur Leitungswasser trinken müssen, statt es in Flaschen zu bekommen. Die schwerste Behinderung der Wahrheit besteht aber in der immer drakonischeren Zensur des Internets, mit der die Türken langsam von der Außenwelt und jeder kritischen Information abgeschnitten werden. Tausende Internetseiten sind in der Türkei gesperrt, ebenso die Twitterkonten kritischer Journalisten im Exil.

Lange konnten die eingeführten Sperren relativ leicht umgangen werden, doch inzwischen blockieren die Behörden auch die bisherigen elektronischen Schlupflöcher - und allmählich wird es richtig finster im Land am Bosporus. Im türkischen Parlament haben gestern die Beratungen über das umstrittene Präsidialsystem begonnen. Mit der Verfassungsreform soll die Macht von Präsident Recep Tayyip Erdogan deutlich ausgebaut werden. Während seine islamisch-konservative Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) die Reform für notwendig hält, sieht die Opposition die Zementierung einer autoritären Ein-Mann-Herrschaft. Kommt die notwendige Dreifünftel-Mehrheit in der Nationalversammlung zustande, folgt am ersten Sonntag nach Ablauf von 60 Tagen ein Referendum. Das Wichtigste aus dem Entwurf, den die Verfassungskommission des Parlaments bereits angenommen hat:

Der Präsident wird nicht nur Staats-, sondern auch Regierungschef. Das Amt des Ministerpräsidenten entfällt. Der Präsident darf künftig einer Partei angehören. Er wird nicht mehr vom Parlamentspräsidenten, sondern von einer vom Präsidenten zu bestimmenden Zahl an Vizepräsidenten vertreten. Der Präsident ist für die Ernennung und Absetzung seiner Stellvertreter und der Minister zuständig.

Erdogan könnte Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen. Eine nachträgliche Zustimmung durch das Parlament wie im derzeitigen Ausnahmezustand ist nicht vorgesehen. Die Dekrete werden unwirksam, falls das Parlament zum Thema des jeweiligen Erlasses ein Gesetz verabschiedet. Per Dekret kann der Präsident auch Ministerien errichten oder abschaffen.

Das Parlament und der Präsident werden künftig am selben Tag für die Dauer von fünf Jahren vom Volk gewählt, und zwar erstmals am 3. November 2019. Die zeitgleiche Wahl erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass der jeweilige Präsident über eine Mehrheit im Parlament verfügen wird. Die Amtsperioden des Präsidenten bleiben auf zwei beschränkt. Die Zahl der Abgeordneten steigt von 550 auf 600.

Der Präsident bekommt auch mehr Einfluss auf die Justiz: Im Rat der Richter und Staatsanwälte kann der Präsident künftig vier der 13 Mitglieder bestimmen, das Parlament drei weitere. Bislang bestimmen Richter und Staatsanwälte selber die Mehrheit des Rates. Das Gremium ist unter anderem für die Ernennung und Beförderung von Richtern und Staatsanwälten zuständig.

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