Die Rückkehr aus der Stille

München. Franz Böhm (der Name ist erfunden) fummelt hinter seinem linken Ohr. Gleich wird er den Chip in seinem Kopf aktivieren. Endlich findet er den kleinen Funkschalter. Er drückt - und schnauft enttäuscht. So groß waren die Hoffnungen des 72-Jährigen. Er wollte nicht mehr taub sein. Wollte endlich wieder hören. Nun hört er zwar, aber er versteht nichts. Da ist kein klarer Klang

München. Franz Böhm (der Name ist erfunden) fummelt hinter seinem linken Ohr. Gleich wird er den Chip in seinem Kopf aktivieren. Endlich findet er den kleinen Funkschalter. Er drückt - und schnauft enttäuscht. So groß waren die Hoffnungen des 72-Jährigen. Er wollte nicht mehr taub sein. Wollte endlich wieder hören. Nun hört er zwar, aber er versteht nichts. Da ist kein klarer Klang. Nur der Hall eines metallischen Echos.

Böhm hockt nach vorne gebeugt in einem kleinen Behandlungszimmer des Münchner Klinikums Rechts der Isar. Er kneift seine Augen zusammen. Mit einer Hand stützt er sich auf einem kleinen Tisch ab. Es dauert ein paar Minuten, bis er sich aufrichtet und seine Therapeutin mit gerunzelter Stirn anblinzelt. "Es ist, als würde jemand in mein Gehirn hineinfunken", brüllt er viel zu laut. Claudia Teschke beruhigt ihn und erklärt, dass es leider nicht so einfach läuft. Trotz moderner Technik.

Die moderne Technik, das ist ein sogenanntes Cochlea-Implantat (CI). Ein künstliches Gehör, das Ende der 1970er Jahre in Australien entwickelt und 1985 zum ersten Mal auch in Deutschland getestet wurde. Mittlerweile benutzen hierzulande rund 30 000 taube Patienten solch ein Implantat. Auch Böhm ist dank des Implantats nicht mehr taub. Hören kann er aber trotzdem nicht. Denn sein Gehirn kann Klänge nicht mehr deuten. Es muss das richtige Wahrnehmen erst wieder lernen.

In vielen Internet-Videos sieht dieser Vorgang simpel aus: Eine bis dato taube Frau etwa weint vor Freude, als sie auf einmal wieder hören kann. In Wirklichkeit müssen Betroffene jedoch wochenlang trainieren, bis ihr Gehirn Geräusche aus der Umwelt verarbeiten kann. "Es kann sowieso nur wieder hören, wer schon einmal gehört hat", erklärt Logopädin Claudia Teschke. Eine Ausnahme können taub geborene Kinder sein. Sie müssen aber bis zum sechsten Lebensjahr das Implantat bekommen, sonst ist eine Heilung sehr unwahrscheinlich. Wer durch Krankheit oder übermäßige Lärmbelastung taub wurde, dessen Gehirn kann sich später unter Umständen wieder an das Hören erinnern. Böhm besserte fast vierzig Jahre lang neben heulenden Flugzeugturbinen Rollbahnen von Flughäfen aus. Der Lärm zerstörte Schritt für Schritt sein Gehör. "Mein Kopf kennt Krawall", scherzt er heute. Vor allem aber kennt er Stille, muss über zwanzig Jahre Taubheit aufarbeiten.

Der Rentner kneift die Augen wieder zusammen. Claudia Teschke wiederholt: "Spielzeug, Spielzeug." Böhm soll erkennen, ob es sich um zwei unterschiedliche oder um dieselben Wörter handelt. "Ich höre das Wort, aber ich kann es nicht erfassen", stammelt er. Immerhin, die ersten Wortpaare hat er schon geschafft. Aber nach fünf Minuten lässt seine Konzentration nach. Vor allem einsilbige Wörter kann er oft nicht identifizieren. Teschkes Angebot einer Pause schlägt er aus: "Wir müssen weiterkommen", grummelt er. Zu lange schon wartet der Rentner darauf, wieder Töne wahrzunehmen.

Am letzten Abend vor seinem schweren Hörsturz hörte Böhm noch ein Klavierkonzert auf der Stereoanlage. Am Morgen danach war alles still. "Wenn keine Musik mehr im Leben ist, dann kann man genauso gut auch sterben", sagt er. Er verlor nicht nur die Musik. Freunde und Kollegen wandten sich ab. Seine Ehe zerbrach. "Ich konnte nicht mehr mit meinen Kindern reden. Sie kamen und gingen wieder, und jedes Mal musste ich weinen", erinnert er sich.

Das Implantat übernimmt die Aufgabe, die sein Gehör nicht mehr schafft. Normalerweise fängt das Außenohr Töne auf und leitet sie zum Trommelfell. Wie bei einem Lautsprecher beginnt das Trommelfell zu schwingen. Und diese Schwingung setzt sich fort bis zur Cochlea (Ohrschnecke). Darin ist Flüssigkeit, deren Schwingungen kleine Haarzellen reizen. Es entstehen elektrische Impulse. Der Hörnerv nimmt sie auf und gibt sie ans Gehirn weiter. Normalerweise übernehmen rund 30 000 solcher Haarzellen die Umwandlung von Geräuschen in Nervenimpulse. Bei Böhm hat die Arbeit am Flughafen fast alle zerstört.

Sein CI überbrückt den Umwandlungsvorgang. Hinter dem Ohr klemmt dazu ein Sprachprozessor mit Mikro. Es fängt Schallwellen auf und wandelt sie direkt in elektrische Signale um. Ein Kabel leitet sie an eine Spule weiter, die per Magnet mit dem Implantat unter der Haut verbunden ist. Trommelfell und Haarzellen werden sozusagen überbrückt und der elektrische Impuls fertig beim Hörnerv angeliefert.

Doch obwohl die Signale wieder ankommen, kann Böhms Hirn sie nicht mehr verstehen. Etwa, als Claudia Teschke ihm mit der Blockflöte eine C-Dur Tonleiter vorspielt, jede Note kurz stehen lässt und fragt: "Habe ich verschiedene Töne gespielt?" Böhm schüttelt den Kopf. Alles hat sich für ihn gleich angehört. Als Teschke dann ein hohes und ein tiefes C spielt, hört er die Unterschiede. "Der Wiedererkennungseffekt von Wörtern und Geräuschen steigt durch die Übungen", erklärt ihm seine Logopädin. Sein Gehirn fange an, die Zusammenhänge wieder zu verstehen.

So wird Klatschen für Franz Böhm wahrscheinlich noch eine ganze Weile metallisch klingen. Der Rentner bleibt trotz des langsamen Fortschritts hartnäckig. Er plant sogar schon die Operation fürs zweite Ohr. Zu lange war es still. "Ich höre das Wort, aber ich kann

es nicht erfassen."

Träger eines Cochlea-Implantats

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