"Die Klassengröße ist egal"

Herr Dräger, die Mängel im deutschen Schulwesen sind unübersehbar. Brauchen wir eine Struktur-Reform? Dräger: Ein Hin und Her bei der Schulstruktur bringt Unruhe und macht Schule nicht besser. Ich würde das pragmatisch angehen

Herr Dräger, die Mängel im deutschen Schulwesen sind unübersehbar. Brauchen wir eine Struktur-Reform?Dräger: Ein Hin und Her bei der Schulstruktur bringt Unruhe und macht Schule nicht besser. Ich würde das pragmatisch angehen. Sollen wir wirklich einen Kampf um den Begriff Gymnasium führen? In den Vorstädten heißen die Schulen eben Gymnasien, wo man in zwölf Jahren Abitur macht, und in den Innenstädten heißen sie dann vielleicht wie in Hamburg Stadtteilschulen, und man macht nach 13 Jahren Abitur.

Das heißt, die Schulform passt sich dem Standort an?

Dräger: Ja, wir sollten über die Struktur vor Ort und nicht in Parteiprogrammen entscheiden. Mittelfristig werden wir überwiegend Schulen haben, die alle Abschlüsse anbieten. Wer worauf den Schwerpunkt legt, das wird regional sehr unterschiedlich sein. Die Bayern zum Beispiel haben rund 30 Prozent Hauptschüler, aber die bekommen eine Lehrstelle und werden später gut bezahlt. Warum sollte ich da einen ideologischen Kampf um die Hauptschule führen? Die Struktur ist letztlich egal, eine gute Schule ist strukturunabhängig. Und wenn aufgrund des Schülerschwunds Strukturentscheidungen nötig sind, dann sollte die Entscheidung zwischen Bürgermeister und Schulleitung getroffen werden.

Also mehr Autonomie vor Ort?

Dräger: Unbedingt. Die brauchen auch die Bürgermeister im Saarland. Sie werden von Saarbrücken aus nicht die Details der Ganztagsschule regeln können. Autonomie im Schulwesen funktioniert aber nur dann, wenn es auch eine externe Qualitätskontrolle gibt. Wenn Sie nur Autonomie gewähren, sackt die Qualität schnell ab. Der Bund sollte Kommunen und Länder Geld für die Schulen zur Verfügung stellen und dann messen, was dabei herauskommt. Das würde die Qualität der Schulen verbessern.

Was kann man noch tun?

Dräger: Gute Schule bedeutet guten Unterricht durch gute Lehrer. Das ist die einzige Maßgabe. Für den Lernerfolg ist die Klassengröße egal, die Computerausstattung egal, die Schulstruktur egal. Ein guter Lehrer aber bringt eine Verdoppelung der Lerngeschwindigkeit.

Sie sind Verfechter des individualisierten Unterrichts, der auf das unterschiedliche Lerntempo von Schülern eingeht. Brauchen wir eine andere Lernkultur?

Dräger: Ja, mehr individuelle Förderung wäre gut. Sinnvoll wäre dann zum Beispiel eine jahrgangsübergreifende Eingangsstufe in der Grundschule, gestaltet als nullte bis zweite Klasse. Da kommen erst mal alle Kinder mit fünf oder sechs Jahren rein. Der Überflieger schafft das in einem Jahr, wer ein bisschen langsamer ist eben in drei Jahren - das ist dann aber keine Form von Sitzenbleiben - und der Durchschnitt in zwei Jahren. So wird Schule kindgerecht und muss nicht warten, bis Kinder schulreif sind.

Was bleibt in Deutschland zu tun?

Dräger: Wir haben in Deutschland drei Probleme. Erstens ein Kompetenzproblem. Wir wissen heute noch gar nicht, wie eine gute Ganztagsschule aussieht, wie Inklusion funktioniert, wie wir mit den Unterschieden im Klassenzimmer am besten umgehen. Zweitens ein Transparenzproblem. Wo stehen wir eigentlich bei der Bildung? Das wissen wir nicht, weil die Länder die entsprechenden Zahlen und Fakten nicht herausgeben. So kann man aber keine Bildungspolitik machen. Bildungspolitik nach Bauchgefühl und Ideologie funktioniert nicht. Und drittens haben wir ein Geldproblem. Wenn Kommunen und Länder mehr Aufgaben übernehmen sollen, wie beim Kita-Ausbau oder beim Aufbau von Ganztagsschulen, brauchen sie mehr Geld. Einzelne Förderprogramme helfen da nicht. Foto: b&b

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