Die Frau im Visier der Spione aus Ankara

Berlin · Der türkische Geheimdienst macht auch vor Bundestagsabgeordneten nicht halt.

Bisher war Michelle Müntefering eine eher unauffällige Parlamentarierin. Vor drei Jahren wurde die heute 36-jährige Sozialdemokratin im Wahlkreis Herne direkt in den Bundestag gewählt, ist seitdem Mitglied des Auswärtigen Ausschusses, stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz - und Vorsitzende der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe.

Es ist wohl letztere Funktion, die sie in das Visier des türkischen Auslandsgeheimdienstes MIT geraten ließ. Jedenfalls taucht die Frau des ehemaligen SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering (77) auf einer ominösen Liste auf, die das ohnehin schon ziemlich zerrüttete deutsch-türkische Verhältnis seit Dienstag zusätzlich belastet. Darauf stehen mehr als 300 Personen, die Verbindungen zur Bewegung des Predigers Fetullah Gülen in Deutschland haben sollen. Gülen gilt dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und seiner Regierung als Drahtzieher des Putschversuchs vom vergangenen Sommer.

NDR, WDR und "Süddeutsche Zeitung" berichten zu dem Fall, dass Müntefering auf der Liste der Gülen-Kontaktleute des Geheimdienstes unter der Rubrik "Machtzentren und Nichtregierungsorganisationen" geführt wird. Die neue Enthüllung gibt der deutsch-türkischen Spionageaffäre eine neue Dimension. Sie hat nun den Bundestag erreicht, zu dem die türkische Regierung spätestens seit der Armenien-Resolution des letzten Jahres ohnehin schon ein gestörtes Verhältnis hat. Das Parlament hatte die Gräueltaten des Osmanischen Reiches gegen die Armenier im Ersten Weltkrieg damals offiziell als "Völkermord" gebrandmarkt. Die Türkei reagierte empört darauf.

Deutschen Abgeordneten wurde daraufhin vorübergehend der Besuch bei den Bundeswehrsoldaten auf der türkischen Luftwaffenbasis Incirlik verweigert. Erst als Kanzlerin Angela Merkel (CDU) die Resolution für rechtlich nicht bindend bezeichnete, gab Ankara grünes Licht für eine Reise des Ausschusses.

Und jetzt das. Warum Müntefering auf der Liste landete, war zunächst nicht ganz eindeutig. Müntefering war im Februar mit der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe in der Türkei. Das Bundeskriminalamt setzte damals ein Großaufgebot von Beamten ein, um die Abgeordneten zu bewachen. Noch nie wurde auf einer Parlamentarier-Reise ein solch großer Sicherheitsaufwand betrieben. Die Linke-Politikerin Sevim Dagdelen geht davon aus, dass schon länger Abgeordnete im Visier des MIT sind. "Das ist nur eine Fortsetzung", sagt sie zum Fall Müntefering. "Erdogan hat längst seine Kampfzone ausgeweitet." Beweise dafür hat sie allerdings nicht.

Müntefering selbst reagierte mit einer knappen, eher zurückhaltenden Erklärung: "Dieses Vorgehen der türkischen Regierung zeigt einmal mehr den Versuch, kritische Positionen zu unterdrücken", heißt es darin. Es werde "erneut und deutlich eine Grenze überschritten". Zu den Hintergründen hielt sich die Abgeordnete zunächst bedeckt. Ihr Fraktionschef Thomas Oppermann forderte dagegen klare Worte von Kanzlerin Merkel.

Mit Konsequenzen ist allerdings noch nicht zu rechnen. Die Bundesregierung will zunächst einmal die Ermittlungen des Generalbundesanwalts in der Sache abwarten. Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) machte den Ernst der Lage aber bereits klar: "Wir können auf gar keinen Fall dulden, dass Menschen, die in diesem Land leben, von ausländischen Geheimdiensten ausspioniert werden."

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort