Die Angst vor dem Zug – und dem Lager

Budapest · Die Flüchtlinge, die derzeit in Ungarn festsitzen, haben fast alle das gleiche Ziel: Deutschland. Weshalb die Regierung des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban sie in Lagern unterbringen will, verstehen sie nicht.

"Kommt mit uns, eure Söhne und Töchter werden es euch danken", ruft ein hochgewachsener Mann auf Arabisch in ein Megafon. Zehn junge Männer umringen ihn. Gemeinsam mit ihm rufen sie immer wieder: "Steht auf, steht auf, lasst uns zu Fuß nach Deutschland gehen." Etwa jeder Zehnte der rund 3000 Männer , Frauen und Kinder, die hier im Budapester Ostbahnhof gestrandet sind, folgt dem Aufruf. "Los, pack die Decken zusammen und lass den Rest da", ruft ein bulliger Syrer seiner Ehefrau zu. Doch Schesud Chodeirallawi zögert. Die 22-jährige Mutter aus Deir ez-Zor hat zwei kleine Kinder. Sie ist im neunten Monat schwanger. "Los, worauf wartest du?", ruft ihr Mann. "Es gibt keinen anderen Weg." Dann packt seine Frau ihre Tochter Hala bei der Hand und marschiert los. "Was soll ich sonst tun?", fragt sie. "Sie lassen uns doch nicht mit dem Zug nach Österreich fahren." Und: "Wer in den Zug steigt, der wird von den Ungarn in ein Lager gebracht und kommt da nie wieder raus." In Ungarn bleiben - das wollen weder die syrischen Kriegsflüchtlinge , die hier campieren, noch die Afghanen, Albaner und Iraker, die in den Unterführungen und Gängen ihre Decken ausgebreitet haben.

Warum sie nach Deutschland wolle? Nun, Schesud Chodeirallawi hat von anderen Flüchtlingen gehört, die dort angekommen sind. "Sie sagen, dort wird man besser behandelt, man bekommt ein Dach über dem Kopf und genug Geld, um zu leben." Die Familie Chodeirallawi war nicht arm, als vor mehr als vier Jahren der Krieg in Syrien begann. "Unser Haus wurde von einer Rakete getroffen. Glücklicherweise waren wir da schon in einem sichereren Viertel untergekommen", sagt die junge Mutter.

In Syrien hätten sie und ihre Familie dreimal die Stadt gewechselt - Damaskus, Al-Rakka, Al-Majadien - immer dann, wenn die Angriffe heftiger wurden, zogen sie weiter. Weshalb sie sich schließlich zur Flucht nach Europa entschlossen haben? "Weil ich irgendwann einfach keine Hoffnung mehr hatte, dass es in Syrien eine Lösung geben wird für uns und unser ganzes Elend", sagt sie. Mit einem Schlepper seien sie deshalb über die grüne Grenze in die Türkei gegangen - vor 20 Tagen, erzählt sie. Vor dem Bahnhof hat sich inzwischen ein Tross von rund 300 Menschen formiert. Es sind fast nur junge Männer . Sie wollen zu Fuß zur österreichischen Grenze marschieren - rund 170 Kilometer. Sie sagen, andere Transportmöglichkeiten gebe es nicht. "Wenn ich einen Fahrschein für den Bus kaufen will, dann fragt der Fahrer nach meinem Pass, und wenn er sieht, dass ich Syrer bin, dann verkauft er mir kein Ticket", sagt Hassaan al-Ibrahim. "Merkt die ungarische Regierung denn nicht, dass sie mit solchen Maßnahmen das Geschäft der Schleuser befördert?"

Am Abend keimt noch einmal Hoffnung unter den in Ungarn gestrandeten Syrern auf: Die Regierung kündigt völlig überraschend an, Busse für den Transport von Flüchtlingen zur österreichischen Grenze zur Verfügung zu stellen. In den nächsten Stunden sollen Tausende Menschen vom Budapester Hauptbahnhof und von der Autobahn Richtung Österreich zur Grenze gebracht werden, heißt es aus dem Büro von Ministerpräsident Viktor Orban.

Zum Thema:

HintergrundGroßbritannien will mehrere tausend Menschen aufnehmen, die aus Syrien geflohen sind. Premierminister David Cameron kündigte am Freitag an, Flüchtlinge ins Land zu lassen, die bislang in Lagern nahe der syrischen Grenze leben. "Das gibt ihnen einen direkteren und sichereren Weg ins Vereinigte Königreich, statt dass sie die gefahrvolle Reise riskieren, die tragischerweise so viele das Leben gekostet hat." Nächste Woche sollen die Details bekanntgegeben werden. Cameron reagierte damit auf lauter werdende Kritik an seiner harten Haltung in der Asylpolitik. Nachdem das Bild eines ertrunkenen syrischen Flüchtlingsjungen die Briten schockiert hatte, hatten sich auch viele Abgeordnete der regierenden Konservativen der Forderung angeschlossen, mehr Menschen aufzunehmen. dpa

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort