Der Sisyphos des Völklinger Weltkulturerbes

Völklingen · Die Völklinger Hütte stellt als Denkmal ähnliche Ansprüche wie der Kölner Dom. Dort gibt es eine Dombauhütte, hier eine Denkmalbauhütte. Andreas Timm (55) ist seit 2011 ihr Chef, er steuert alle Baumaßnahmen für Erhalt, Sanierung und Erschließung. Ein Job für einen Gemütsmenschen.

 Freund des feinen Zwirns: Andreas Timm an seinem Lieblingsplatz in der Möllerhalle der Völklinger Hütte. Foto: Rich Serra

Freund des feinen Zwirns: Andreas Timm an seinem Lieblingsplatz in der Möllerhalle der Völklinger Hütte. Foto: Rich Serra

Foto: Rich Serra

Sie sind selten wie Sternschnuppen, aber es gibt sie, die Momente. Und die stupsen dann selbst Andreas Timm (55) ins Schwärmerische. Einen Mann, der von sich selbst sagt, er sei "ein total nüchterner Brocken". Irgendwann, vor Jahren, stand Timm auf seiner "Kommandobrücke", wie er den Lochblech-Steg hinter den Meisterhäusern der Alten Hütte nennt, in dem sein Büro untergebracht ist. Der Steg liegt zwischen Möllerhalle, Erz-Schrägaufzug und Ferrodrom und ist Timms Weltkulturerbe-Lieblingsplatz. Ruhe und Übersicht gewinne er hier, sagt Timm - Eigenschaften, die sowohl einem Kapitän wie einem Architekten gut anstehen. Beides ist Timm. Das Erstere privat, als Segler, das Zweite beruflich, als Denkmalbauhütten-Chef des früheren Völklinger Eisenwerks. Jedenfalls gab es für Timm nicht nur diesen kostbaren Moment: Unter seiner Brücke ertönten Bachkantaten, angestimmt von einer Schülergruppe, die die Hütte besichtigte. Timm konnte sie nicht sehen, nur hören - himmlische Stimmen aus dem Bauch einer toten, einst Feuer, Staub und Dampf spuckenden Riesenmaschine. "Genau das ist es", habe er gedacht, sagt Timm, just diese Art von Reibung zwischen Hoch- und Arbeiterkultur mache die Magie des Ortes aus: "Das ist die Transformation zu einem neuen Kulturort der Gesellschaft."

Das hört sich fast so an wie die Werbebotschaften des Generaldirektors der Alten Hütte. Meinrad Maria Grewenig ist einer von Timms fünf Chefs in einem komplizierten Organisations-Geflecht zwischen Landesentwicklungsgesellschaft Saar (LEG) und Weltkulturerbe-GmbH. Dass aus diesem Konstrukt seit fünf Jahren kein Stress erwächst, vor allem nicht mit Grewenig, der die Sonne öffentlicher Aufmerksamkeit für sich gepachtet hat, das macht Timm spürbar ein wenig stolz. Dabei könnte man beim hoch gewachsenen Timm ebenfalls Geltungsbedürfnis unterstellen. Denn grundsätzlich taucht er im edlen Zwirn auf, mit Krawatte oder mit Fliege, und das im schmutzig-unwegsamen Arbeitsumfeld Hütte. Eitelkeit? Statusdenken? Timm erklärt sein ungewöhnliches Outfit mit Respekt vor der großen Tradition seines Berufsstandes, dem schon sein Vater angehörte. Dafür nimmt er gern den Verdacht der Arroganz in Kauf.

"Ich bin ein Mann der Zahlen", sagt Timm und spricht über Geldkreisläufe, die das Weltkulturerbe in Gang setzt. Neun von zehn Aufträgen, die seine Abteilung vergebe, gingen an saarländische Firmen - quasi ein Konjunkturprogramm. Bei der 75-prozentigen Fremdmittelförderung könnten dann die vielen Steuerrückflüsse die Saarland-Mittel weitgehend wieder ausgleichen. "Volkswirtschaftlich gesehen wird die Sanierung des Weltkulturerbe für das Land bis 2020 nahezu kostenlos gewesen sein", so Timm.

Der Chef der Denkmalbauhütte redet sich dabei nicht hinein in den technikgeschichtlichen Furor, die mancher Industriearchäologe oder Denkmalschützer entwickelt, wenn es um Timms Arbeitsgebiet geht: Sanierung und Erhalt der Hütte. Ein Traumjob? So tickt Timm nicht. Der Chef von fünf Mitarbeitern, die Prozesse mit wiederum bis zu 300 Mitarbeitern von Fremdfirmen steuern, versteht sich als "Generalist". Bevor Timm 2009 von Emsdetten bei Münster ins Saarland wechselte, war er - ein selbstständiger Stadtplaner und Architekt - in Verwaltungs- und Bauleitplanungssrecht spezialisiert. Als Flächen- und Projektmanager engagierte ihn die LEG, eine Tochter der Strukturholding Saar, die das Weltkulturerbe mitbetreut. So kam Timm zur Industriekultur, gesucht hat er sie nicht. Allerdings gibt es viele durch seine Biografie geprägte Affinitäten und Berührungspunkte. Beispielsweise Timms ausgeprägte Beziehung zu nachhaltigem Wirtschaften. Bei einer Dynastie von Forstwirten im Münsterland lernte er "über den eigenen Zeithorizont hinaus zu denken", also nachfolgende Generationen im Auge zu behalten. Diese Einstellung hilft ihm nicht nur im Job, auch beim Segeln.

Seine Jolle hegt und pflegt er schon 38 Jahre lang. Früher schipperte Timm mit ihr über die Ostsee und die Alster, jetzt liegt das Boot am Bostalsee. Frau und Tochter (17) begleiten ihn häufig. "Dass ich meine Jolle so lange habe, liegt daran, dass ich auf das Material höre, sie nicht überstrapaziere und mit dem richtigen Werkzeug repariere." Na, wenn das mal nicht auch zur Völklinger Aufgabe passt. Auch ist Timm leidenschaftlicher Schachspieler, strategisches Denken liegt ihm. Gerade beschäftigt ihn das Anschluss-Finanzierungmodell ab 2020 für das Weltkulturerbe. Dann nämlich laufen die aktuellen Programme aus. Noch lange hin? Drei Jahre Finanzsicherheit klingen fast schon ein wenig spaßig bei einem Denkmal mit Ewigkeitsanspruch. Für solche Spannungsfelder braucht man wohl ein sonniges Naturell. Doch Timm hat noch eine überraschend andere Seite: Er brauche bildende Kunst zur täglichen "Zwiesprache", erzählt er, lebe mit ihr. Einst betrieb er eine eigene Kunstgalerie in Emsdetten, für koreanische Kunst. Der Vielleser hat einen Gedichtband zum Interview mitgebracht: "Chinesische Lyrik aus drei Jahrtausenden", er schlägt das Poem ,,Der weiße Reiher" auf, ein Natur-Sinnbild über Einsamkeit und Trost. Da hat einer ohne Zweifel Sinn für Minimalistisches und Meditatives, für Rätsel und Philosophie. Das hilft, wenn man ein Monument betreut, dessen Fragilität sich hinter Gigantismus versteckt. Und das sich, wie Timm es formuliert, "permanent selbst zerstören möchte". Ein Sisyphos-Job, geschaffen für einen strategischen Gemütsmenschen.

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