Der loyale Minister begehrt auf

Berlin · Die beschwichtigenden Presseerklärungen folgten schon am nächsten Tag. Doch so leicht lässt sich der Riss zwischen der Kanzlerin und ihrem Vertrauten Thomas de Maizière nach dessen öffentlicher Kritik vermutlich nicht kitten.

Mit der demonstrativen Bemerkung, sie möchte "unserem Innenminister ganz herzlich danken", sorgte Angela Merkel am Donnerstag im Bundestag dafür, dass der angeschlagene Thomas de Maizière Sonderbeifall der Unionsabgeordneten bekam. Doch Undank ist der Welten Lohn. Die Kanzlerin saß im Flugzeug Richtung New York, als de Maizière am Abend in einer Fernsehtalkshow gefragt wurde, ob ihm die Flüchtlingssituation nicht außer Kontrolle geraten sei. "Es ist nicht außer Kontrolle geraten", antwortete er. "Außer Kontrolle geraten ist es mit der Entscheidung, dass man aus Ungarn die Menschen nach Deutschland holt. Wir sind jetzt dabei, die Dinge wieder etwas zu ordnen." Er meine die Entscheidung, die Merkel am 4. September traf.

Der Auftritt war so brisant, dass die Kanzlerin über den Atlantik hinweg gleich am nächsten Morgen eine Sprachregelung ausgab. "Sie empfindet diese Äußerungen nicht als Kritik ", teilte ein Regierungssprecher in Berlin mit, und de Maizières Sprecher beeilte sich zu erklären: "Der Minister wollte niemanden kritisieren."

Zwischen Absicht und Wirkung liegen aber mitunter Welten. Für die Kanzlerin ist die Stimmung in der Flüchtlingsfrage inzwischen äußerst brenzlig, und de Maizière weiß das. Das gilt nicht nur für die CSU , deren Chef Horst Seehofer die Ungarn-Entscheidung öffentlich als "falsch" bezeichnet, sondern auch für die CDU . Erst am Dienstag gab es in der Unions-Bundestagsfraktion eine über dreistündige, ungewöhnlich kritische Debatte. Merkels Entscheidung stand im Feuer, aber auch die geplante Gesundheitskarte, die Selfies der Kanzlerin mit Flüchtlingen und ihr Satz, dass es für Asylbewerber keine Obergrenze gebe. Merkel intervenierte mehrfach, was sie sonst sehr selten macht. Göttinnen-Dämmerung? Auch in den Umfragen ist die Kanzlerin abgerutscht, im ZDF-Politbarometer liegt sie nur noch auf Platz Vier.

Bisher galt der 61-jährige de Maizière als absolut loyal. Das machte seine starke Stellung aus, er war lange die Nummer Zwei im Kabinett. In Merkels erster Kanzlerschaft hielt er ihr als Kanzleramtsminister den Rücken frei. Als sie ihm 2013 das geliebte Verteidigungsministerium wegnahm, um damit Ursula von der Leyen zu versorgen, schluckte er das klaglos. Doch jetzt scheint die Loyalität an Grenzen zu kommen. Der Innenminister stand wochenlang unter massiver Kritik der Länder, auch der CDU-regierten, weil er den Flüchtlingsstrom nicht vorausgesehen hatte und die ihm unterstehende Asylbehörde nicht flott bekam. Merkel verteidigte ihn nicht, sondern erweckte stattdessen den Eindruck, erst seit sie die Sache an sich gezogen habe, laufe es. De Maizières Worte im Fernsehen dürften vom Frust darüber getrieben gewesen sein und auch von dem Bewusstsein, mit der Kritik nicht allein dazustehen.

Vor kurzem erst sprach de Maizière zudem davon, Europa solle nur noch gewisse Kontingente von Asylbewerbern aufnehmen. Auch warnte er lange vor den Rettungsaktionen auf dem Mittelmeer, dass sie nur Schlepper ermunterten. All das ist nicht Merkel-Linie. Dieser Riss zwischen der Kanzlerin und ihrem Minister dürfte mit eiligen Presseerklärungen langfristig kaum zu kitten sein. Die schockierende Zeichnung ist zweigeteilt: Unter der syrischen Flagge ist auf der linken Seite ein zerstörtes Haus zu sehen, abgetrennte Gliedmaßen liegen auf der Straße, ein Kind mit einem abgerissenen Fuß läuft an Krücken. Im rechten Teil steht unter der deutschen Flagge ein großes Haus mit langem Zufahrtsweg und Menschen mit Koffern. Die deutsche Fahne und die Polizei sind von roten Herzen umrahmt.

Ein unbekanntes Kind - vermutlich ein Mädchen - hat dieses Bild bei der Bundespolizei in Passau vor wenigen Tagen gemalt und an die Wand gehängt. Es zeigt eindrucksvoll die Schrecken des Krieges im Heimatland des Kindes und die Hoffnungen, die es in Deutschland setzt. "Es ist wahrscheinlich, dass das Kind die dargestellten Ereignisse erlebt hat, da es diese sonst nicht so zeichnen könnte", sagt Psychologin Iris-Tatjana Kolassa von der Universität Ulm . Vermutlich sei das Malen der Ereignisse auch eine Form der inneren Verarbeitung.