Der Landarzt – bedrohte Art im Saarland

Nunkirchen · Der Winter, die Hochzeit von Grippe, Schnupfen und Mandelentzündung, ist vorbei. Die Hausärzte im Saarland können ein wenig aufatmen. Viel Arbeit haben sie trotzdem. Ein Besuch in einer Praxis in Nunkirchen.

 Wie geht es Leber, Niere und Bauchspeicheldrüse? Dr. Thomas Rehlinger untersucht einen Patienten per Ultraschall. Fotos: Ruppenthal

Wie geht es Leber, Niere und Bauchspeicheldrüse? Dr. Thomas Rehlinger untersucht einen Patienten per Ultraschall. Fotos: Ruppenthal

Sechs Töne. Tief, hoch, tief, hoch, tief, hoch. Karin Frey könnte die kurze Melodie im Schlaf singen. Denn kaum hat die Arzthelferin aufgelegt, klingelt das Telefon schon wieder. Den Hörer zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt, tippt Frey zugleich noch am Computer oder kümmert sich um Rezepte und Überweisungen. Und manchmal muss sie das Klingeln einfach ignorieren, schließlich ist die Praxis voll mit Patienten . Die meisten kennt Frey, die Begrüßung fällt herzlich und persönlich aus. Hektik kommt bei der erfahrenen Arzthelferin nicht auf. Es ist der ganz normale Wahnsinn an einem Montagmorgen in der Hausarzt-Praxis in Nunkirchen . Vor allem in den zurückliegenden kalten Monaten. "Man muss einfach ruhig bleiben", sagt Frey, die nach mehr als 40 Jahren im Job nichts mehr umhaut. "Wenn ich die Nerven verliere, hilft es weder den Patienten noch dem Chef."

Der Chef, das ist Dr. Thomas Rehlinger. Das einzige ärztlich Weiße an ihm ist sein Hemd. Er grüßt mit einem festen Händedruck und freundlichem Blick hinter der schwarz umrandeten Brille. Seit 2002 ist der 46-Jährige Hausarzt - und gehört damit fast schon einer bedrohten Art an. Die Hausärzte haben im Saarland massive Nachwuchsprobleme. Manche Gebiete sind bereits von Unterversorgung bedroht, auch die abgelegene Waderner Gegend, wo Rehlinger seine Praxis hat. Rund 1500 Fälle bearbeitet er im Quartal, der Durchschnitt sind etwa 850. "Manche Landärzte haben sogar das Dreifache davon", sagt Rehlinger, der zweiter Vorsitzender des saarländischen Hausärzteverbandes ist. Arbeitstage von 8 bis 20 Uhr und brechend volle Wartezimmer sind da keine Seltenheit.

Der Trubel an diesem Morgen bringt Rehlinger deshalb nicht aus der Ruhe. Routiniert und gelassen lässt er das Ultraschall-Gerät über den Bauch eines Patienten gleiten. Der Computer brummt. Das kühle Weiß in dem Behandlungsraum wird von einem kräftigen Grün in Details wie Handtüchern und Vorhängen aufgelockert. Die grau flimmernden Konturen auf dem Bildschirm entschlüsselt der Arzt für den Mann auf der Liege. "Die Bauchspeicheldrüse ist in Ordnung. Die Leber auch", sagt Rehlinger. "Also kann ich noch ein Bierchen trinken", scherzt Luitwin Strucken. "Zwischen Leber und Milz . . . das kannst du ja mal ausprobieren", steigt der Arzt mit ein. Nach der Untersuchung archiviert er die Daten auf einem USB-Stick und macht sich auf zum nächsten Patienten . Auf dem Flur bespricht er sich kurz mit seiner Kollegin Tirza Guillen, macht an einem kleinen Pult Halt, um einige Rezepte zu unterschreiben - dann schließt sich die Tür zum Behandlungszimmer 2.

Gegen neun Uhr hat sich der erste Ansturm gelegt. Dennoch herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Und das Telefon klingelt weiter am laufenden Band. Im modern eingerichteten Wartezimmer mit WLAN für die Patienten und einem großen Flachbild-Fernseher herrscht ruhige Anspannung, bis ein kleiner Junge Leben in die Bude bringt. Der Blondschopf mit der schwarzen Brille lutscht herzhaft und geräuschvoll an einem Lolli und steuert direkt die Spielsachen in der Kinderecke an. Zwei Puzzles später dürfen auch er und seine Großmutter zum Herrn Doktor.

Der Nachmittag ist schon angebrochen, als Rehlinger Zeit hat für eine Kaffeepause in der Küche, die gleichzeitig sein Büro ist. Deckenhohe Regale gefüllt mit Aktenordnern. Neben dem Schreibtisch ein Turm aus Zeitschriften und Zeitungen. Auch auf dem Tisch Bücher und Akten. Ein Schild an der Wand verkündet: "Es kommen bessere Tage, man nennt sie Samstag und Sonntag." Ganz oben auf einem Regal steht ein kleiner roter Punching-Ball. Er ist nur Deko, aber manchmal würde Rehlinger doch gern draufhauen.

Nicht wegen der vielen Arbeit. Der Mann von Saar-Wirtschaftsministerin Anke Rehlinger ist Arzt aus Leidenschaft. Aber zum Beispiel dann, wenn er seinen Patienten nicht so helfen kann, wie er möchte. Gerade ist die 54-jährige Martina Vieille mühsam mit einem Rollator aus dem Sprechzimmer gelaufen. Nach einem Schlaganfall ist sie fast erblindet und hat weitere schwere Beeinträchtigungen. "Trotzdem muss sie um jede Hilfe kämpfen. Teilweise sogar vor Gericht", sagt der Arzt. Da schmerzt es ihn umso mehr, wenn auch ihm manchmal die Hände gebunden sind. Dann, wenn sein Budget gegen Ende eines Quartals nicht mehr ausreicht, um eine bestimmte Behandlung zu verordnen. "Ich muss den Mangel verwalten und jeden Tag überprüfen, was ich noch verschreiben darf und was nicht. Man kommt mit großen Mühen hin, wenn man Abstriche macht."

Neben den Engpässen beim Budget frustriert Rehlinger auch der wachsende Berg an Papier-Kram in seinem Job. "Für alles gibt es inzwischen ein Formular auszufüllen. Wir Ärzte scherzen oft: Die Patienten stören uns nur bei der Büro-Arbeit." Die erledigt der Hausarzt oft zwischendurch, wenn er wie jetzt mal eine Tasse Kaffee trinken und eine Kleinigkeit essen kann. Allzu lang lamentieren will er aber nicht - vor allem, weil ein Teil der Nachwuchsprobleme bei den Hausärzten seiner Ansicht nach auch selbst gemacht ist. "Wir jammern einfach zu viel. Das ist der größte Fehler, den wir machen können. Unser Ziel muss es sein, den jungen Ärzten zu zeigen, was für einen spannenden und vielseitigen Beruf wir haben", sagt Rehlinger. "Viele wissen gar nicht genau, was wir machen. Oft entsteht das falsche Bild: Wer nur von allem ein bisschen kann, wird Hausarzt." Auch was das Einkommen angeht, sei man mit einer Praxis auf der Sonnenseite des Lebens. "Manche Kollegen sehen das allerdings anders."

Schluss mit Pause. Am frühen Nachmittag füllt sich das Wartezimmer wieder. Doch bevor sich Rehlinger diesen Patienten widmen kann, macht er noch einen Hausbesuch. Er packt seinen Arztkoffer ins Auto und fährt zum nahegelegenen Seniorenheim St. Sebastian. Im zweiten Stock wird er erwartet. Lange drückt der Arzt der alten Dame im Rollstuhl die Hand. "Wie geht es Ihnen denn heute?"

 Rehlinger bespricht sich zwischen Untersuchungen mit seiner Kollegin Tirza Guillen.

Rehlinger bespricht sich zwischen Untersuchungen mit seiner Kollegin Tirza Guillen.

Zum Thema:

Hintergrund664 Allgemeinmediziner gibt es im Saarland, Tendenz stark sinkend. Denn 51 Prozent erreichen nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) in den nächsten zehn Jahren das Rentenalter. Besonders auf dem Land finden schon heute viele Hausärzte keinen Nachfolger, 2014 mussten elf ihre Praxis endgültig zusperren. So mancher arbeitet weit über das Rentenalter hinaus. 85 Allgemeinmediziner sind älter als 65 Jahre, 23 sogar über 70. mast

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort