Der große Brückenbauer nach Osten

Berlin · Bis zuletzt lag Egon Bahr das Verhältnis Deutschlands zu Russland am Herzen. Jetzt ist der Mann, der Willy Brandts Ostpolitik in den 1970er Jahren mit Leben füllte, an einem Herzinfarkt gestorben.

Jungen Leuten muss man erklären, wer Egon Bahr war. Um das zu tun, muss man schildern, dass es einmal eine DDR gab. Und West-Berlin. Und den Ostblock. Und den Kalten Krieg. Und die nukleare Bedrohung der Welt. Und eine sogenannte Ostpolitik, die die Situation entspannen, sogar ein bisschen Menschlichkeit bringen sollte. Diese Ostpolitik hat das sogar geschafft, und Bahr hat sie gemacht. Manche sagen, ohne sie hätte es nur Konfrontation gegeben und später keine Wiedervereinigung. Ohne sie würden die jungen Leute noch heute in der DDR oder BRD leben.

Egon Bahr war ursprünglich nur der Mann im Schatten eines noch größeren, nämlich von Willy Brandt , Regierender Bürgermeister Berlins, SPD-Vorsitzender, Kanzler, Friedensnobelpreisträger. Bahr war zunächst sein Pressesprecher. Aber Pressesprecher sind oft die engsten Berater und Ideengeber. Egon Bahr jedenfalls ist bald selbst zur Legende geworden.

Wenn es wirklich eine große Brücke gäbe zwischen Ost und West, würde man sagen, Brandt hat sie durchgesetzt und Bahr sie gebaut. Von Bahr stammt das Konzept der "Politik der kleinen Schritte" und des "Wandels durch Annäherung". Es war der Ausweg aus einem Dilemma, das Bahr und Brandt 1961 erlebt hatten, als der Chef der DDR-Staatspartei SED, Walter Ulbricht , die Mauer durch Berlin ziehen ließ, als auf Fliehende geschossen wurde. Man konnte zwar wütend gegen das Bollwerk anrennen, aber das half nichts. Amerika zog wegen so etwas nicht in den Krieg mit Russland. Man konnte sich aber auch nicht mit der Mauer abfinden. Man musste versuchen, sie durchlässiger zu machen. Auch um den Preis der faktischen Anerkennung der DDR. Bahr war der Unterhändler, ihm vertrauten die Kommunisten. Denn er respektierte ihre Position, um den Frieden zu sichern. Manche sagen, er sei ihnen dabei viel zu nahe gekommen. Als 1989 die DDR-Bürgerbewegung immer stärker wurde und sich die Mauer öffnete, stand er jedenfalls skeptisch abseits. Anders als Brandt, der förmlich jubelte.

Auch in den letzten Jahren vertrat Bahr, ganz ähnlich übrigens wie Altkanzler Helmut Schmidt , eine in globalen Machtsphären denkende Außenpolitik. Das hat ihn in der Ukraine-Krise automatisch zum Russland-Versteher gemacht. Amerika sei unentbehrlich, Russland aber unverrückbar, hat er gesagt. Und dabei die Ausweitung der Nato nach Osten kritisiert. Mit der Annexion der Krim, fand er, solle man so umgehen wie damals mit der DDR. Die habe der Westen auch nie völkerrechtlich anerkannt, aber respektiert, um weiter zu kommen. Manche sagen, Bahr sei auch nach der Wende im Block-Denken stehen geblieben.

Bahr ist eine der Ikonen der SPD . Neben Schmidt der Letzte aus der Generation der verqualmten Sitzungen. Immerhin ist er 93 Jahre lang nicht an den Zigaretten gestorben, bis ihn am Mittwoch ein Herzinfarkt ereilte. Vielleicht Zufall - das letzte Interview von Egon Bahr war im einstigen SED-Zentralorgan "Neues Deutschland " abgedruckt, am 9. August. Er forderte darin, den "Faden nach Moskau" nicht abreißen zu lassen.

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HintergrundEgon Bahr wurde am 18. März 1922 im thüringischen Treffurt an der Werra geboren. Die aus Schlesien stammende Lehrerfamilie zog 1928 zunächst nach Torgau und 1938 nach Berlin . Zuvor war Bahrs Vater aus dem Schuldienst entlassen worden, weil er sich nicht von seiner Frau, deren Mutter Jüdin war, trennen wollte. Nachdem ihm die Nazis die Studienerlaubnis verweigerten, begann er eine Lehre als Industriekaufmann. Nach Kriegsende arbeitete Bahr in Berlin als Journalist. Seine politische Karriere beginnt, als ihn 1960 der damalige Berliner Regierende Bürgermeister Brandt zum Senatssprecher macht. 1966 geht Bahr als Sonderbotschafter ins Auswärtige Amt in Bonn, 1972 wird er Bundesminister für besondere Aufgaben . Der größte Tiefschlag ist Brandts Rücktritt nach der Enttarnung des DDR-Spions Günter Guillaume im Kanzleramt 1974. Dennoch wird Bahr im Juli unter Nachfolger Helmut Schmidt noch einmal Minister - für wirtschaftliche Zusammenarbeit. 1976 scheidet er aus dem Kabinett aus. dpa

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