Das Parlament bestimmt mit

London · Die Regierung muss das Parlament befragen, bevor der Austritts-Prozess in Gang gesetzt werden kann. Das entschied gestern das Oberste Gericht in Großbritannien. Premierministerin Theresa May will dennoch am Zeitplan festhalten.

Als die höchsten Richter des Landes am Morgen beim Obersten Gerichtshof eintrafen, um nur kurz darauf Geschichte zu schreiben, hatten sich einige Demonstranten bereits versammelt. EU-Freunde standen Brexit-Befürwortern entgegen, sie alle hielten Schilder in die Höhe und schwenkten - je nachdem, welche Seite sie unterstützen - EU-Fahnen oder Flaggen mit dem Union Jack. Es war ein Bild der Gegenpole, wie sie seit Monaten die Insel dominieren. Dieses Mal sollten zur Abwechslung die Brexit-Gegner jubeln. Sie feierten den "Sieg der Demokratie": Die britische Regierung muss die Zustimmung des Parlaments einholen, bevor sie den Austritt aus der EU einleitet. Mit einer Mehrheit von acht zu drei fällten die obersten Juristen das weitreichende Urteil. Und sorgten damit für eine heftige Schlappe für Premierministerin Theresa May und ihre Regierung, die sich "enttäuscht" über die Entscheidung zeigte.

Gerät nun etwa der Zeitplan durcheinander, nach dem bis Ende März Artikel 50 des Vertrags von Lissabon ausgelöst werden soll und damit der auf zwei Jahre befristete Austritts-Prozess beginnen kann? Einem Regierungssprecher zufolge werde man "wie geplant" bis Ende März den Startschuss für die Scheidung von Brüssel geben. Weil man in Downing Street mit einer Niederlage gerechnet hatte, liegt ein Gesetzentwurf schon bereit. Dieser werde "innerhalb von Tagen" ins Parlament eingebracht, kündigte Brexit-Minister David Davis an, und diene ausschließlich dem Zweck, der Regierung die Vollmacht für die Erklärung zu übertragen.

May wollte das Brexit-Verfahren ohne Zustimmung der Abgeordneten starten, was seit Monaten vor allem in der Opposition für Kritik gesorgt hatte. Und die Investmentfonds-Managerin und politische Aktivistin Gina Miller auf den Plan rief. Mit Mitstreitern hatte die 51-jährige Britin das Verfahren angestoßen, aber vor allem Miller geriet in einen Sturm der Entrüstung der rechtskonservativen Presse und zahlreicher Brexit-Befürworter. Morddrohungen. Hassbriefe. Schmähungen. Seit sieben Monaten bekam die dreifache Mutter zu spüren, wie aufgeheizt die Stimmung auf der Insel ist.

Miller und ihr Team gewannen im November vor dem Londoner High Court, woraufhin die Regierung vor den Supreme Court zog. Die Kläger hatten bestritten, dass May im Alleingang und lediglich unter Berufung auf das Votum des EU-Referendums im Juni die Scheidung von Brüssel einleiten könne. Tatsächlich ging es vor Gericht nie um die Frage, ob der Brexit noch gestoppt werden könnte, sondern lediglich um rechtliche Belange. Und auch wenn sich die Mehrheit der Abgeordneten vor dem Referendum für den Verbleib des Königreichs in der EU ausgesprochen hatten, werden sich etwaige Hoffnungen von Brexit-Gegnern nicht erfüllen. Die Scheidung kommt. "Es gibt kein Zurück", so Davis.

Die regierenden Konservativen werden vermutlich geschlossen dem Plan von May zustimmen und auch Labour-Chef Jeremy Corbyn teilte gestern mit, er werde sich nicht gegen das Mehrheitsvotum der Bevölkerung stellen. Dennoch können Oppositionspolitiker Änderungsvorschläge einbringen. Oder sogar den harten Bruch mit Brüssel und damit den Ausstieg aus dem gemeinsamen Binnenmarkt verhindern? Die sozialdemokratische Labour-Partei hat bereits drei Korrekturwünsche vorbereitet, die Schottische Nationalpartei SNP sogar 50, was als Antwort auf eine andere Entscheidung von gestern verstanden werden darf. Die Richter beschlossen nämlich auch, dass die Regionalparlamente in Schottland, Wales und Nordirland kein Mitspracherecht beim Auslösen des Brexit-Prozesses haben. Das aber hatten Vertreter der mit Autonomierechten ausgestatteten Regionen des Königreichs gefordert. Die Schotten und Nordiren haben sich bei der Volksabstimmung mehrheitlich für einen Verbleib in der EU ausgesprochen. SNP-Chefin Nicola Sturgeon drohte denn auch abermals mit einem Referendum über die schottische Unabhängigkeit.Seit Monaten hat sie diesem Tag entgegengefiebert: Die Investmentmanagerin Gina Miller hat den Brexit-Prozess losgetreten. Die einen feiern Miller und ihre Mitstreiter dafür wie eine Volksheldin, die anderen verachten sie. Von manchen Kritikern wird die politische Aktivistin in Anspielung auf die gefährliche Spinne als "Schwarze Witwe" verhöhnt oder sogar bedroht. Aus eigener Tasche habe sie Zehntausende von britischen Pfund für Sicherheitsvorkehrungen gezahlt, berichtete die dreifache Mutter. Ein 55-Jähriger aus dem Südwesten Englands, der sie rassistisch beschimpft haben soll, war festgenommen worden. Die Juristerei ist Miller, die in Guyana geboren wurde und in Großbritannien aufwuchs, nicht fremd: Als Tochter eines Anwalts studierte sie Betriebswirtschaft und Jura. Sie hatte verschiedene Jobs; auch als Model soll die zierliche Frau gearbeitet haben. Mit ihrem Ehemann Alan Miller - der britischen Medienberichten zufolge "Mr. Hedgefonds" genannt wird - gründete sie eine Vermögensverwaltungsgesellschaft. Das vermögende Paar engagiert sich für soziale Zwecke und sammelt Spenden.

Meinung:

Politische Symbolkraft

Von SZ-Korrespondentin Katrin Pribyl

Der Oberste Gerichtshof fällte zwar ein rein juristisches Urteil. Doch es strahlt ungeheure politische Symbolkraft aus: Die Hoheit hat letzten Endes nicht die Regierung, sondern das Parlament. Dass sich nun etliche Brexit-Befürworter darüber beschweren, dass das oberste aller britischen Gerichte eine Entscheidung zugunsten der Abgeordneten getroffen hat, ist an Absurdität kaum zu übertreffen. Denn fordern sie nicht seit Jahr und Monat die Souveränität ihres Parlaments sowie der britischen Gerichte von Brüssel zurück? Sie sollten das Urteil nicht als vermeintliche Untergrabung des Mehrheitswillens, sondern als Chance begreifen. Denn mit der Entscheidung der Richter ändert sich nichts an der Sache, geschweige denn am bevorstehenden Brexit. Alle Spekulationen über eine Umkehr des Volkswillens gehören in die Welt der Märchen. Umfragen zeigen, dass ein erneutes Referendum heute kaum anders ausfallen würde als am 23. Juni 2016 - allein, die Brexit-Befürworter würden noch deutlicher gewinnen. Deshalb gilt es als ausgeschlossen, dass das Parlament sein Mitspracherecht nutzen wird, um den Start des Austrittsprozesses noch zu verhindern.

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