Auftakt Mauerfallgedenken im Schloss Bellevue Auch die Helden von damals verstehen es nicht

Berlin · Das Mauerfall-Gedenken in Berlin wird zur Debatte über den Rechtsruck im Osten. Der Bundespräsident übt zum Auftakt scharfe Kritik am AfD-Wahlkampf.

 Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spricht Klartext während der Gesprächsreihe „Geteilte Geschichte(n)“ im Schloss Bellevue. 

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spricht Klartext während der Gesprächsreihe „Geteilte Geschichte(n)“ im Schloss Bellevue. 

Foto: dpa/Wolfgang Kumm

Die Reihe der Dialogveranstaltungen, die sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zum 30. Jahrestag des Mauerfalls ausgedacht hat, klingt nach Harmonie. Sich gegenseitig Geschichten und Geschichte erzählen, zuhören und wertschätzen. Zum Auftakt der ersten Veranstaltung am Dienstag im Schloss Bellevue spielen Streicher ein flottes Potpourri von Wendesongs wie „Wind of Change““. Doch dann wird es schnell dissonant.

Es fängt schon mit Steinmeiers Rede an. Offenbar hat sich der Präsident die Kritik zu Herzen genommen, dass seine Reihe allzu verständnisvoll wirken könnte, während die AfD dabei ist, in Brandenburg und Sachsen stärkste Partei zu werden. Der Präsident erwähnt sie namentlich nicht, aber ihren Wahlkampf. Bekanntlich versucht die Partei mit Plakatsprüchen wie „Wir sind das Volk“ an die Bürgerbewegung der DDR anzuknüpfen. Sie stehle damit das Erbe von 1989, sagt Steinmeier und spricht von einer „perfiden Verdrehung der Geschichte.“ Und er sagt: Damals habe auf der falschen Seite der Geschichte gestanden, wer die Menschenwürde mit Füßen trat. Heute sei es derjenige, „der Menschen verunglimpft oder das Gift des Hasses in die Sprache und in die Gesellschaft trägt“.

Auch bei den Dialogpartnern ist der Zustand der Ost-Gesellschaft schnell Thema. Siegbert Schefke hatte als junger Bürgerbewegter am 9. Oktober 1989 heimlich die große Demonstration in Leipzig gefilmt und die Aufnahmen in den Westen geschafft. Das gab der Oppositionsbewegung enormen Schub. „Die Angst hatte die Seiten gewechselt“, sagt Georg Mascolo über die damalige Stimmung. Mascolo hatte als Westdeutscher mit seinem Kamerateam am 9. November 1989 den Moment der Maueröffnung am Grenzübergang Bornholmer Straße für „Spiegel-TV“ eingefangen. Schefke mag sich heute über die Entwicklung in Sachsen nicht so aufregen, obwohl er weiter in Leipzig lebt. „Mein Gott, wir sind doch gar nicht so wichtig.“ Mascolo findet diese Haltung falsch. Die AfD versuche, die Geschichte der DDR-Revolution für sich zu nutzen. 

Im Publikum sitzen etliche Altvordere dieser Revolution. Und sie beschäftigt offensichtlich nichts mehr als die Frage, wieso die Stimmung im Osten heute so anti ist. Wolfgang Thierse, Ex-Bundestagspräsident und Mitbegründer der Ost-SPD, sagt, in den neuen Ländern sei die Gesprächsatmosphäre heute so polarisiert, „wie ich es nie zuvor erlebt habe“. Es fehle die Fähigkeit zur „positiven Selbstwahrnehmung“. Matthias Platzeck, kurz einmal SPD-Chef, länger Ministerpräsident Brandenburgs, hat eine andere Analyse. Es habe eben nicht nur die friedliche Revolution und den Mauerfall gegeben, sondern nach der Wiedervereinigung auch den Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft. „Auch das war eine Kollektiverfahrung der Ostdeutschen.“ Dazu die dominierenden Wessis, die Abwanderung der jungen Leute und 2015 der Flüchtlingszustrom. „Dass dann eine Gesellschaft älter und ängstlicher ist, das kann uns nicht wundern.“ Werner Schulz, Bürgerrechtler der ersten Stunde, verortet die Schuld bei der Linkspartei, den „Nachfolgern der SED“, wie er sie nennt. Die habe die Unzufriedenheit systematisch genährt, von Bürgern zweiter Klasse gesprochen. „Das wird jetzt von den Rechten bedient.“

Die nächste Dialogrunde im Schloss Bellevue findet in vier Wochen statt, dann geht es ganz offiziell um „Erwartungen und Enttäuschungen“. In der Haupstadt wurde am Dienstag auch an den Mauerbau vor 58 Jahren erinnert und der Opfer der deutschen Teilung gedacht.

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