„Das ist doch nur Spiegelfechterei“

Istanbul · Istanbuler glauben nicht an lang anhaltende Verstimmungen zwischen Deutschland und der Türkei nach Nazi-Vergleichen.

Es hagelt Nazi-Vergleiche, Beschimpfungen, Beschwerden: Türkische Politiker fahren derzeit in der Krise mit Deutschland schwere Geschütze auf. "Wir haben Deutschland immer als Freund gesehen", klagte Außenminister Mevlüt Cavusoglu bei seinem Besuch in Hamburg. Aber die "systematische Gegnerschaft" gegen türkische Politiker, die im Land auftreten wollen, könne man nicht akzeptieren. Wenn sich Präsident Recep Tayyip Erdogan demnächst wohl zu einem Deutschland-Besuch aufmachen sollte, dürften die Spannungen weiter eskalieren. Doch während sich die Politiker in Rage reden, bleiben die türkischen Normalbürger gelassen.

"Das mit den Spannungen, das ist doch nur Politik", sagt Nusret, ein nationalstolzer Türke und Bewunderer der Deutschen. Als Besitzer einer Auto-Werkstatt in Istanbul hat Nusret die Erfahrung gemacht, dass deutsche Autos zu den besten gehören. Deutsche Wertarbeit und Fleiß sind Dinge, die Nusret schon immer geschätzt hat. Dass sich die Deutschen plötzlich in Türkenfeinde verwandelt haben sollen, will er nicht glauben.

Deshalb hat Nusret in diesen schweren Zeiten eher das große Ganze im Blick als die Tagespolitik. "Deutschland war schon immer unser Freund." Drei Millionen Türken und türkischstämmige Deutsche in der Bundesrepublik, ebenso viele deutsche Urlauber in der Türkei: Wie könnte ein politischer Zwist diese tiefe Verbindung ernsthaft schaden? "Unmöglich", sagt Nusret. "Das ist wie in einer Familie: Klar, ich kann mich schon mal über dich ärgern, aber dann vertragen wir uns wieder."

Keinem anderen westeuropäischen Land fühlen sich die Türken so verbunden wie der Bundesrepublik. Deutschland ist der wichtigste Handelspartner in der EU Gut 5000 deutsche Firmen haben sich in den vergangenen Jahren in der Türkei angesiedelt. Kein anderes Land schickt so viele Touristen in die Türkei wie die Bundesrepublik. In der deutsch-türkischen Universität in Istanbul werden türkische Studenten von deutschen Dozenten und Unternehmen zu Fachkräften ausgebildet.

Ob in der Autowerkstatt, im Taxi, beim Frisör oder im Laden an der Ecke: Immer wieder wird sogar die deutsch-osmanische Waffenbrüderschaft im Ersten Weltkrieg bemüht, um die lange Tradition der Beziehungen zwischen beiden Ländern zu beschreiben. Und immer wieder wird der Besucher dort mit Bruchstücken deutscher Sprache konfrontiert, aufgeschnappt während eines Verwandtenbesuchs oder im Kopf behalten seit der Rückkehr aus Deutschland.

Nusret hat recht. Diese Verbindungen sind so vielfältig, dass der politische Streit dagegen fast nebensächlich wirkt. Ahmet Davutoglu, bis 2016 Ministerpräsident der Türkei, besuchte in seiner Jugend eine deutschsprachige Oberschule in Istanbul und spricht bis heute recht gut Deutsch. Aydin Engin, ein angesehener regierungskritischer Journalist, floh vor dem Militärputsch von 1980 nach Deutschland und schlug sich dort bis zu seiner Rückkehr an den Bosporus unter anderem als Taxifahrer durch. Sänger Tarkan Tevetoglu, ein Megastar der Türkei, wurde in Alzey geboren. Umgekehrt wurde der Döner zum deutschen Nationalgericht, und Fußballprofi Mesut Özil mit der deutschen Fußball-Nationalmannschaft Weltmeister.

Auch Anhänger der Erdogan-Partei AKP haben diese Dinge im Kopf, wenn sie Schlagzeilen von "Skandal" und "Schande" über Deutschland lesen. "Den Nazi-Vergleich fand ich schon etwas scharf, das war wirklich übertrieben. Das ist schon unfair, einen alten Verbündeten so anzugehen, das muss wirklich nicht sein", sagt Faruk Ayaz, ein Istanbuler Reiseführer, der in Deutschland aufwuchs und vor 25 Jahren mit seiner Familie in die Türkei zurückkehrte.

Bei so einem Lebenslauf hat man viel Verständnis für beide Seiten. "Was wäre hier wohl los, wenn syrische Politiker in der Türkei Wahlkampfreden halten würden?" Allerdings könnten die Deutschen die türkischen Wahlkämpfer ruhig gewähren lassen, sagt Faruk. Erstens gehöre sich das für ein Land, das immerfort über Demokratie rede. Und zweitens: "Es leben nun mal drei bis vier Millionen Türken in Deutschland, das ist Tatsache."

Dass sich die Verstimmung zwischen den Regierungen auf die Normalbürger auswirken wird, glaubt Faruk nicht. In der Türkei herrscht Wahlkampf vor dem Verfassungsreferendum vom 16. April, wo die Wähler über die Einführung des Präsidialsystems nach Erdogans Wünschen abstimmen sollen. Spätestens danach "wird das alles schnell vergessen sein", sagt er.

Am Bosporus suchen einige Türken, die der Erdogan-Regierung weniger gewogen sind als Faruk, nach Gründen für das Verhalten der Erdogan-Leute. Ein Finanzmanager, der namentlich nicht genannt werden will, hat den Verdacht, dem Präsidenten gehe es weniger um nationalistische Wähler in der Türkei. Vielmehr schiele er auf türkische Wähler in der Bundesrepublik: "Die wollen die konservativen Wähler in Deutschland mobilisieren." Der Grund dafür könnte in den Umfragen liegen, die für den 16. April ein knappes Ergebnis voraussagen - die Stimmen der türkischen Auslandswähler, bei denen Erdogan wesentlich beliebter ist als bei seinen Landsleuten in der Türkei, könnten eine zentrale Rolle spielen. 70 Prozent Zustimmung zu Erdogans Präsidialplan erwartet AKP-Politiker Mustafa Yeneroglu bei den türkischen Wählern in Deutschland. In der Türkei selbst könnte Erdogan dagegen unter der entscheidenden 50-Prozent-Marke bleiben.

Wie der Istanbuler Finanzmanager sehen auch andere Erdogan-Kritiker den Krach mit Deutschland als Schaumschlägerei. Die ganzen Beschwerden seien doch nur Spiegelfechterei, sagt Musiker Gökhan. Erdogan und seine Leute schimpften zwar laut über die Deutschen, aber "dann setzen sie sich in ihren Mercedes und fahren davon".

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