„Charlie Hebdo“-Urteil in Paris Woher kommt der Terror?

Paris · 30 Jahre Haft erhält der Hauptangeklagte im Prozess um die Attacken auf das Magazin „Charlie Hebdo“ und einen koscheren Supermarkt 2015. Doch für Frankreich stellen sich weitere Fragen.

 Eine Gerichtszeichnung stellt eine Szene aus dem Prozess um den islamistischen Terroranschlag auf das französische Satiremagazin „Charlie Hebdo“ dar. Die Szene zeigt die Anhörung von 14 mutmaßlichen Komplizen des Attentäters. 

Eine Gerichtszeichnung stellt eine Szene aus dem Prozess um den islamistischen Terroranschlag auf das französische Satiremagazin „Charlie Hebdo“ dar. Die Szene zeigt die Anhörung von 14 mutmaßlichen Komplizen des Attentäters. 

Foto: dpa/Marie Williams

(SZ/epd) Einer der Hauptbeschuldigten im Prozess um den islamistischen Terroranschlag auf das französische Satiremagazin „Charlie Hebdo“ ist zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Ali Riza Polat wurde der Beihilfe zu Verbrechen mit Terrorhintergrund für schuldig befunden. Polat gilt als rechte Hand des Attentäters Amédy Coulibaly, der nach dem Überfall auf das Magazin eine Polizistin erschoss und vier Geiseln in einem Supermarkt tötete.

Im Prozess um die Terrorserie vom Januar 2015 waren 14 Menschen angeklagt – drei von ihnen sind aber flüchtig. Alle elf vor Gericht anwesenden Angeklagten wurden für schuldig befunden, sechs von ihnen aber von der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung freigesprochen. Ihre Taten gelten als Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Vor einem Sondergericht für Terrorfälle wird seit Anfang September nicht nur der Anschlag auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ verhandelt, sondern auch die anschließende Attacke auf einen jüdischen Supermarkt im Süden von Paris. Die Terroristen töteten 17 Menschen. Die drei Täter – die Brüder Chérif und Said Kouachi sowie Coulibaly – wurden damals von Sicherheitskräften erschossen.

Während in diesem Fall das Urteil verkündet wurde, begann in Paris am selben Tag der nächste Terrorprozess. Im August 2015 hatte ein Mann mehrere Menschen in einem Thalys-Zug schwer verletzt. Der Islamist wurde überwältigt, bevor er Schlimmeres anrichten konnte. Für großes Aufsehen sorgt allerdings schon jetzt die Verhandlung wegen der Anschläge im Konzertsaal Bataclan, die im Januar beginnen soll. Am 13. November 2015 hatten sich während eines Fußballspiels Deutschland gegen Frankreich zunächst drei Selbstmordattentäter vor dem Stadion nördlich von Paris in die Luft gesprengt. Anschließend überfielen Terrorkommandos in Paris das Bataclan und töteten 130 Menschen.

In all diesen Prozessen werden die Richter ein Urteil sprechen und damit im juristischen Sinn für Gerechtigkeit sorgen. Doch das ist nur die eine Seite der Aufarbeitung von Taten, die Frankreich tief ins Herz getroffen und das Land verändert haben. Die erste Reaktion nach den Anschlägen in jenem blutigen Jahr 2015 war ein Zusammenrücken der Gesellschaft und ein fast trotziges Wiederaufnehmen des Alltages. Die Franzosen flanierten weiter auf den Straßen, setzten sich in Cafés, die Menschen zeigten, dass sie keine Angst haben und sich von den Terroristen nicht vorschreiben lassen, wie sie zu leben haben.

Auch die aktuellen Prozesse erfüllen für die meisten Franzosen mehr als nur das Ziel, Recht zu sprechen. Sie dienen dazu, öffentlich zu demonstrieren, dass der Staat Herr der Lage ist und das Land trotz der massiven Bedrohung ein Rechtsstaat bleibt.

Allerdings muss sich die Gesellschaft während dieser Terrorprozesse viele schmerzlichen Fragen stellen. Zu deutlich kommen die Versäumnisse einer Nation zutage, die sich Brüderlichkeit und Gleichheit auf die Fahnen geschrieben hat, aber nun erkennen muss, dass sie ihre Ideale im Alltag zu oft nicht verwirklicht hat. Lange wurden in Frankreich Terroranschläge als Taten psychisch angeschlagener Individuen abgetan. Das war einfach, konnte die Verantwortung doch abgeschoben werden. Viele wollte die Gemeinsamkeit der Attentate nicht sehen, die im Grunde schon vor 2015 als Serie radikaler Islamisten erkennbar waren.

Erst nach den Morden bei „Charlie Hebdo“ und im Bataclan wurde die Ursachensuche verstärkt. Dabei formierten sich schnell zwei unversöhnliche Lager. Die eher linken Politiker sehen die Ursache der Radikalisierung vor allem in der Benachteiligung der Muslime in der französischen Gesellschaft. Die Anschläge werden als eine Art Rache interpretiert. Die rechte Seite hingegen erklärt die Einwanderung zum zentralen Problem und stellt Muslime unter Generalverdacht.

Erst langsam wird differenziert, und es macht sich die Erkenntnis breit, dass Frankreich ein sehr spezielles Problem mit radikalen Islamisten hat, das bis in die Kolonialzeit zurückreicht. Erste größere Problem gab es, als der wachsende Islamismus während des algerischen Bürgerkriegs in den 1990er Jahren zunehmend auch das Leben in Frankreich bedrohte. Vor allem junge französische Muslime klagten immer lauter die koloniale Vergangenheit Frankreichs an, was ihr gebrochenes Verhältnis zur Republik deutlich werden ließ.

In Gang gesetzt wurde ein Prozess der Reflektion, gestellt werden inzwischen Fragen nach der Situation in den französischen Vorstädten oder auch der Chancengleichheit verschiedener Bevölkerungsschichten. Ein zentraler Punkt ist, welche Stellung der Laizismus hat und welche Rolle der Islam darin einnimmt.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat lange gebraucht, um sich im Kampf gegen die Radikalisierung klar zu positionieren. Nun hat er aber einen Gesetzentwurf auf dem Weg gebracht, der die „republikanischen Prinzipien“ stärken soll. Damit will er dem Separatismus entgegenwirken, jene Abspaltungstendenzen in der Gesellschaft, die den Aufbau von radikaler islamistischer Netzwerken befördert. Doch Macron geht noch weiter. Er will die Laizität stärken, die strikte Trennung von Kirche und Staat in Frankreich, eines jener kollektiven Leitbilder der Republik. Dahinter steht der Wunsch, dass sich alle Franzosen hinter einer einigenden Idee sammeln, auf der die Vorstellung von Gleichheit und Brüderlichkeit aufbauen kann.

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