Berlins bange Blicke über den Ärmelkanal

Berlin · Seit Wochen reagiert die Bundesregierung gleich, wenn es ums Thema Brexit geht: Sie hält sich bedeckt. Damit nicht das Gefühl aufkommt, sich in die Entscheidung der Briten einmischen zu wollen. Dabei hofft Berlin auf den Verbleib des Königreichs.

Ihre zurückhaltende Strategie hielt die Bundesregierung auch noch am Tag vor der Abstimmung über einen "Brexit" durch: Nur keinen Druck auf die Briten ausüben. Denn mit einem Schulmeister Deutschland lässt sich im Königreich immer gut Stimmung gegen Europa machen. Am Rande der deutsch-polnischen Konsultationen meinte Kanzlerin Angela Merkel (CDU ) lediglich, sie wünsche sich, dass die Bürger Großbritanniens, "deren Entscheidung das natürlich ist", für einen Verbleib in der EU votierten.

Berlin schaut mit bangen Blicken über den Ärmelkanal. Die Bewertungen eines möglichen "Brexits" hatte Merkel in den vergangenen Wochen ihrem Finanzminister überlassen. Und Wolfgang Schäuble (CDU ) könnte in den nächsten Tagen wieder einer ihrer wichtigsten Minister werden, falls die Gegner der EU das Referendum gewinnen. Denn dann drohen an den Finanzmärkten erhebliche Turbulenzen. "Ein Brexit wäre auch für uns in Deutschland von erheblichem Schaden", so Schäuble. Positiv registriert wurde auf der Insel vor allem dessen Hinweis, man werde "weinen", wenn es dazu komme.

Wo ist der Plan B?

Mehr als sonst dürfte bei einem Austritts-Beschluss auch Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD ) gefordert sein. Als Handelspartner liegt Großbritannien für Deutschland an fünfter Stelle, ist aber der drittwichtigste Exportmarkt. Über 2500 deutsche Unternehmen verfügen über Niederlassungen auf der Insel. Viele befürchten laut Umfragen bei einem "Brexit" negative Auswirkungen auf ihre Geschäfte. Es bedarf also eines Plans B. Doch weder Merkel, noch Schäuble, noch Gabriel haben bisher darüber gesprochen. Zumindest nicht öffentlich.

Auffällig ist zudem gewesen, dass die meisten Mitglieder der Regierung in den letzten Wochen einen großen Bogen um das Vereinigte Königreich gemacht haben. Merkel, Gabriel oder Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD ) reisten nicht nach London. Jegliches Zeichen der Einmischung oder einer möglichen deutschen Bevormundung sollte vermieden werden. Gabriel betonte gestern: "Egal, wie das Referendum ausgeht, ein Weiter so darf es nicht geben." Es müsse nach der Abstimmung unbedingt eine Debatte über die Zukunft der EU geführt werden. "Viele sagen, Europa ist bislang durch jede Krise stärker geworden. Darauf sollten wir uns diesmal nicht verlassen." Auch die Vorsitzende der Linksfraktion, Sahra Wagenknecht , meinte, ein Ja zum Verbleib Großbritanniens sei kein Bekenntnis zur EU. "Die EU, so wie sie heute ist, hat jeden Kredit und jede Unterstützung gerade bei denen, denen es schlechter geht, verspielt", so Wagenknecht. Im Parlament ließ sich niemand finden, der einen Austritt nicht bedauern würde. Das gilt auch für die Mehrheit der Deutschen. Laut einer Umfrage fänden 62 Prozent einen "Brexit" nicht gut. Doch schon morgen könnte es je nach Ausgang des Referendums Sondersitzungen der Fraktionen geben.

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