Belgien stürzt wieder ins Chaos

Brüssel. Die Zukunft Belgiens ist wieder einmal ungewiss. Nach nur vier Monaten im Amt zerbrach die Fünf-Parteien-Koalition in der Nacht zum Dienstag erneut an der Frage, wie Flamen und Wallonen künftig zusammenleben wollen. Weit nach Mitternacht ließ Ministerpräsident Yves Leterme (47) den 74-jährigen König Albert II

Brüssel. Die Zukunft Belgiens ist wieder einmal ungewiss. Nach nur vier Monaten im Amt zerbrach die Fünf-Parteien-Koalition in der Nacht zum Dienstag erneut an der Frage, wie Flamen und Wallonen künftig zusammenleben wollen. Weit nach Mitternacht ließ Ministerpräsident Yves Leterme (47) den 74-jährigen König Albert II. aus dem Bett holen, um ihm sein Rücktrittsgesuch zu überreichen. "Die gegensätzlichen Visionen der Gemeinschaften über ein erforderliches Gleichgewicht im Staatsaufbau sind heute unvereinbar", teilte der Regierungschef dem Monarchen mit. Der lehnte es ab, den Rücktritt anzunehmen, will aber die nächsten Tage bis zum Beginn der Sommerpause in dem 10,4 Millionen Einwohner zählenden Land nutzen, um einen Ausweg zu suchen. Dabei hat der König - bei den Niederländisch sprechenden Flamen als Wallone unbeliebt - nicht allzu viele Varianten zur Auswahl: Er kann Leterme überreden, im Amt zu bleiben - dieser Weg gilt unter Beobachtern als der am wenigsten Erfolg versprechende. Albert II. könnte einen anderen Politiker mit einer Regierungsbildung beauftragen. Auch dafür werden ihm wenige Chancen eingeräumt, so dass nur noch Neuwahlen als dritte Möglichkeit bleiben.Auslöser der Regierungskrise ist der Streit um die künftige Verteilung der Kompetenzen zwischen den Landesteilen. Letermes eigene Partei, die flämischen Christdemokraten, bestehen darauf, dass zentrale politische Themen künftig von den Regionen autonom entschieden werden können. Dazu gehören der Arbeitsmarkt, die Gesundheitspolitik sowie das Erheben von Einkommens- und Unternehmenssteuern. Streit um BrüsselDie Französisch sprechenden Wallonen wehren sich entschieden gegen diese Verlagerung, die ihnen als ökonomisch rückständiger Landesteil Nachteile bringen würden - nicht zuletzt den Verlust einer jährlichen Zehn-Milliarden-Euro-Spritze. Als Leterme an Ostern 2008 sein Amt übernahm, versprach er, bis 15. Juli einen Lösungsvorschlag vorzulegen. Dazu kam es nicht mehr: In der Nacht zu Dienstag zerbrach die Koalition an der zentralen Frage des Streits: der Zukunft Brüssels.Die belgische Hauptstadt ist weitgehend frankophon, liegt aber größtenteils auf flämischem Boden. Während Flandern und die Wallonie bei Wahlen getrennte Wahlkreise sind, gilt für Brüssel eine Sonderregelung. Hier können die Wähler für Vertreter beider Sprachgruppen stimmen. Nun wollen die Flamen alle niederländischen Gemeinden wieder zurückhaben, was eine Aufspaltung des Wahlreises Brüssel-Halle-Vilvoorde bedeuten würde. Mehr als 150000 "Brüsseler" würden damit Vorrechte verlieren, in den Gemeinden würde Flämisch zur Amtssprache - sehr zum Ärger der frankophonen Einwohner. Wenige Tage vor seinem Staatsfeiertag am kommenden Montag steht das Land damit wieder vor der Frage, ob es sich überhaupt noch lohnt, an die Einigung der Belgier unter ihrem ersten König vor 178 Jahren zu erinnern. Meinung

Wer rettet Belgien?

Von SZ-KorrespondentDetlef Drewes Dass sich Flamen und Wallonen nahezu unversöhnlich gegenüberstehen und Belgien immer weiter aufteilen wollen, ist ein europäischer Sündenfall. Denn ausgerechnet in Brüssel ist der Spaltpilz weiter gewuchert. Das wirkliche Übel aber ist eine politische Klasse, die es zugelassen hat, dass der Nationalismus ungehindert wachsen konnte. So steht das Land heute ohne unabhängigen politischen Kopf da, der Gegensätze vereinen und den Wert der Solidarität zwischen Regionen in Politik gießen könnte. Ausgerechnet jener europäische Wert, dem die EU schon Verfassungsrang einräumen wollte, ist in diesem Land verloren gegangen. Das ist die eigentlich alarmierende Nachricht, die nicht nur Belgier etwas angeht.

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