20 Prozent aller Tests positiv Belgien steht vor dem Corona-Kollaps

Brüssel · In den Krankenhäusern ist mehr als die Hälfte der Intensivbetten belegt. Jeder fünfte Arzt und Pfleger ist inzwischen infiziert, arbeitet aber weiter.

Herbst in Brüssel – und die Parks sind weitgehend verwaist. Wegen der Infektionsgefahr bleiben viele Belgier daheim. Mehr als 10 800 starben in dem Land mit oder an Corona.

Herbst in Brüssel – und die Parks sind weitgehend verwaist. Wegen der Infektionsgefahr bleiben viele Belgier daheim. Mehr als 10 800 starben in dem Land mit oder an Corona.

Foto: AP/Francisco Seco

Peter Liese (55) ist Arzt und Europa-Abgeordneter. Seit dem Ausbruch der Pandemie bemüht sich der Westfale, die deutschen Korrespondenten aus Brüssel über die Dramatik der Coronavirus-Krise auf dem Laufenden zu halten. Doch an diesem Donnerstag vor zehn Tagen hatte der CDU-Politiker ein persönliches Anliegen: „Bitte informieren Sie die Menschen in Deutschland über die Situation in den anderen Mitgliedstaaten, vor allem Belgien, damit sie verstehen, was passieren kann.“

Am Dienstag vergangener Woche meldete das gut zehn Millionen Einwohner große Land 18 217 Neuinfektionen an einem Tag. In den Städten Brüssel und Lüttich kletterten die Inzidenzwerte (der Warnwert liegt bei 50 Infektionen pro 100 000 Menschen) auf 1700 beziehungsweise 2000. Inzwischen fallen 20 Prozent aller Tests positiv aus. Bis zum gestrigen Montag waren 10 810 Belgier an oder mit Corona verstorben. Die Zahl derjenigen, die im Krankenhaus behandelt werden müssen, stieg innerhalb der vergangenen Woche um zehn Prozent auf 4827, damit ist mehr als die Hälfte der Intensivbetten belegt. Seit Montag gibt es eine landesweite Ausgangssperre ab 22 Uhr bis sechs Uhr morgens. Die Maske ist auch in der Öffentlichkeit zu tragen, sobald das Haus verlassen wird. Die Liste der geschlossenen Einrichtungen wird jeden Tag länger: Restaurants, Bars, Sportzentren, Schwimmbäder und so weiter.

Emmanuel André, ein landesweit bekannter Mikrobiologe und Regierungsbeamter in Sachen Coronavirus, sagte vor wenigen Tagen: „Wir sollten uns nicht mehr die Frage stellen, was man schließen muss. Wir müssen uns fragen, was offenbleiben darf.“ Es ist – von Lebensmittel-Geschäften, Tankstellen und Apotheken abgesehen – nicht viel. Nicht nur diese Zahlen machen Angst. Sie spiegeln vor allem die Realität nur statistisch steril wider. Die drei großen Klinikverbände meldeten sich in der vergangenen Woche zu Wort: „Im ganzen Land brennen die Krankenhäuser.“ Intensivbetten sind das eine, das Personal das andere. 20 Prozent der Ärzte und Pfleger sind bereits infiziert. Seit Freitag werden sie mehr oder minder offiziell gebeten, auch dann weiterzuarbeiten, wenn sie positiv getestet wurden, aber keine Symptome zeigen. Das gilt offenbar auch für die Polizei, wie ein Fall am Freitag in Charleroi (30 Kilometer südlich von Brüssel) bestätigte. Die Experten sind sich einig: Der Anfang der „Katastrophe“ liegt im August und September, als die Beschränkungen nach Meinung der Virologen zu früh und zu schnell gelockert wurden. Das Land war bereits von der ersten Welle heftig getroffen, da erschien der Wunsch nach Freiheit groß. Doch es war zu früh. Vor einigen Tagen beantwortete der neue Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke die Frage, ob er eine Implosion des Gesundheitssystems für möglich halte, mit nur einem Wort: „Absolut.“ Gegenüber der ARD sagte die Krankenschwester Joséphine Casano: „Vielleicht haben wir bald nicht mehr genügend Platz. Und dann können wir nicht mehr alle retten und müssen auswählen. Aber wie? Retten wir den 30-Jährigen? Oder den 60-Jährigen? Ich weiß es nicht. Und wie lebt man danach mit so was? Ich weiß es nicht.“

Die Brüsseler EU-Institutionen halten mühsam den Betrieb aufrecht, auch wenn längst fast 90 Prozent der Beamten und Angestellten im Home-Office sitzen. „Die zweite Welle der Corona-Pandemie trifft die EU-Hauptstadt Brüssel derzeit mit voller Härte“, teilte die deutsche EU-Ratspräsidentschaft am Montag mit. Und das hat Konsequenzen: Physische Sitzungen werden ab sofort auf das „unbedingt erforderliche Maß reduziert“, heißt es in der Stellungnahme. Es bleiben kaum mehr als eine Handvoll Treffen pro Monat übrig.

Corona-Abstrich im Test-Zentrum des Roten Kreuzes in Brüssel: Rund 20 Prozent aller Tests fallen in Belgien inzwischen positiv aus.

Corona-Abstrich im Test-Zentrum des Roten Kreuzes in Brüssel: Rund 20 Prozent aller Tests fallen in Belgien inzwischen positiv aus.

Foto: AP/Francisco Seco

Inzwischen bemüht sich die belgische Regierung darum, Krankenhausbetten in Deutschland und Luxemburg zu buchen. Die Niederlande, ein traditionell befreundeter Staat, kommt nicht infrage. Die Regierung in Den Haag ließ bereits in der Vorwoche die ersten Patienten zur Behandlung nach Münster fliegen. Binnen 24 Stunden infizieren sich in dem 16 Millionen Einwohner großen Land derzeit rund 9500 mit Covid-19.

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