Klagen über Bürokratie Der Frust der Briten nach dem Brexit hat begonnen

London · Die Klagen der Exporteure in Großbritannien werden täglich lauter. Spediteure, Einzelhändler und Fischer klagen über den Bürokratieaufwand.

 Experten schließen erneute große Lkw-Staus in Richtung EU vor der Zollabfertigungsstelle im Hafen von Dover nicht aus.

Experten schließen erneute große Lkw-Staus in Richtung EU vor der Zollabfertigungsstelle im Hafen von Dover nicht aus.

Foto: dpa/Gareth Fuller

Es stehe außer Frage, darauf beharrte der britische Premierminister Boris Johnson immer wieder, dass nach dem Brexit keine Kontrollen zwischen Nordirland und Großbritannien für Güter notwendig würden. Auch der Nordirlandminister Brandon Lewis behauptete noch am Neujahrstag, es gebe keine irische Seegrenze. Die Realität sieht anders aus, nachdem am 31. Dezember die Übergangsfrist abgelaufen und der EU-Austritt Großbritanniens auch wirtschaftlich vollzogen ist.

Was der Brexit wirklich bedeutet, das wird für die Bürger mit jedem Tag greifbarer. So blieben in Nordirland wie auch in anderen Teilen des Landes, etwa in London, in einigen Supermärkten sonst mit frischen Lebensmitteln gefüllte Regale leer. Salat, Blumenkohl, Orangen, Erdbeeren, Himbeeren und Blaubeeren fehlten beispielsweise in manchen Filialen der Supermarktkette Tesco. Dem Online-Lieferdienst Ocado gingen Brokkoli, Karotten und Blumenkohl aus.

Neben Transportschwierigkeiten aufgrund der Corona-Pandemie scheinen zahlreiche Unternehmen von den seit 1. Januar gültigen Anforderungen und den notwendigen Formalitäten überrascht. Erst an Heiligabend einigten sich London und Brüssel in letzter Minute auf einen Handelsdeal. Und die massive Umstellung läuft alles andere als rund. So benötigen etwa Exporteure in Großbritannien zusätzliche Papiere, um ihre Lebensmittel nach Nordirland verfrachten zu können. Der nördliche Landesteil handelt laut Austrittsabkommen weiterhin innerhalb des gemeinsamen europäischen Binnenmarkts, während der Rest des Königreichs nicht mehr Mitglied von Zollunion und Binnenmarkt ist.

So kann etwa ein vollbeladener Lastwagen am Hafen von Belfast aufgehalten werden, wenn auch nur für ein Produkt der Fuhre nicht die korrekte Zollerklärung ausgefüllt wurde. Dementsprechend wiesen die Kontrolleure in den vergangenen Tagen zahlreiche Lkw zurück, weil diese nicht die richtigen Papiere mit sich führten. Dasselbe passierte am Hafen von Dover, wo etwa jeder fünfte Truck umkehren musste, wie der Transportverband RHA angab.

„Das Chaos hat begonnen“, sagte der Frachtexperte John Shirley. „Sogar die einfachste Ladung nach Europa zu organisieren, hat sich aufgrund des Bergs an Bürokratie, die am 1. Januar eingeführt wurde, zu einer fast unmöglichen Aufgabe entwickelt.“ Lkw-Schlangen vor der Überfahrt in die EU schließt er nicht aus. Auch der für die Brexit-Vorbereitungen zuständige Staatsminister Michael Gove warnte: „Die Situation wird schlechter, bevor sie besser wird.“

Die Worte des prominenten Europaskeptikers klingen deutlich anders als die rosigen Versprechen der letzten Jahre von Seiten der konservativen Regierung. Noch versucht Premierminister Boris Johnson, die Kritik aus der Wirtschaftswelt zu ignorieren. Wie lange gelingt ihm das noch? Die Risse, die der Brexit bewirkt, werden jeden Tag deutlicher. Sogar unter den Fischern regt sich Widerstand. Sie waren mehrheitlich für den Austritt aus der Staatengemeinschaft, erhofften sich neue Märkte und Möglichkeiten. Nun herrscht Ernüchterung. „Es ist eine Katastrophe“, hieß es von einem schottischen Exporteur. Verzögerte Zollabfertigungen und IT-Probleme in Frankreich – plötzlich stecken frische Hummer und Krebse auf dem Weg auf den Kontinent fest. „Alles, was wir diese Woche verschifft haben, ist verloren“, sagte etwa der Chef des schottischen Meeresfrüchte-Exporteurs Loch Fyne Seafarms, Jamie McMillan, in einem Video, das er vor wenigen Tagen auf Twitter verbreitete. „Wir können nicht mehr in die EU exportieren, bis die Probleme gelöst sind.“ Die Frage bleibt, wann dies der Fall sein wird.

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