Angst vor erneuten Ausschreitungen Das Kapitol wird zur Festung

Washington · Aus Angst vor dem nächsten Aufmarsch rechter Milizen werden die Sicherheitsvorkehrungen vor Joe Bidens Amtseinführung massiv erhöht.

US-Kapitol wird aus Angst vor dem nächsten Aufmarsch zur Festung
Foto: dpa/Ting Shen

Im Zimmer S 132 sieht es aus, als wären die Vandalen eben erst eingefallen. Immer noch, neun Tage nachdem Hunderte Anhänger Donald Trumps das Parlament stürmten. Auf dem marineblauen Teppich liegt kreuz und quer jede Menge bedrucktes Papier, herausgerissen aus Aktenordnern und Schreibtischschubladen. Das Polster eines Ledersessels ist aufgeschlitzt, selbst den Schredder hat jemand durchsucht und den Inhalt auf den Boden gekippt. Eine Forensikerin in weißer Schutzkleidung ist gerade dabei, Fingerabdrücke zu sichern. Nichts darf angerührt, nichts verändert werden im Chaos von Zimmer S 132. Spurensuche an einem Tatort.

Hier unten, im Parterre des Senatsgebäudes, schlugen die ersten Angreifer die Scheiben von Fenstern und Türen ein, nachdem sie auf der Westseite des Kapitols eine Mauer erklommen hatten, wie geübte Bergsteiger an einer Kletterwand. Fensterhöhlen sind mit Holz vernagelt, an einer zerbrochenen Scheibe klebt noch der Aufkleber, den die Eindringlinge dort hinterließen. „Make Liberals Cry Again!“ Man möge die Liberalen – gemeint sind die Demokraten – erneut zum Weinen bringen, es ist eine Parole aus dem Wahlkampf Donald Trumps.

Die größte Sorge ist die, dass Joe Biden etwas zustoßen könnte, wenn er am 20. Januar die Hand auf die Bibel legt, seinen Amtseid leistet und in einer Rede skizziert, was er sich vorgenommen hat für die nächsten vier Jahre im Oval Office. Ein Drohnenangriff, ein Scharfschütze irgendwo im Versteck, ein Mob, der noch einmal sämtliche Sperren durchbricht: An Bedrohungsszenarien mangelt es nicht. Michael Beschloss, einer der bekanntesten Historiker der USA, spezialisiert auf Präsidenten, hat Biden geraten, auf den Auftritt im Freien, auf der Westseite des Kapitols, zu verzichten und sich lieber im Inneren eines streng bewachten Gebäudes in sein Amt einführen zu lassen. „Wenn das eine Höhle ist oder eine Militärbasis, soll es mir recht sein“, sagt Beschloss. Barry McCaffrey, ein pensionierter Armeegeneral, sieht es ähnlich. Wenn jemand behaupte, es wäre ein Zeichen von Schwäche, würde Biden die Zeremonie in geschlossene Räume verlegen, könne er nur widersprechen. „Ich habe schon viele Gefechte erlebt. Ich bin noch am Leben, weil ich sofort reagiert habe, wenn Gefahr aufzog.“

Es sieht nicht danach aus, als würde der 46. Präsident der Vereinigten Staaten auf den Rat hören. Er habe keine Angst davor, sich unter freiem Himmel vereidigen zu lassen, entgegnet Biden. Der Satz allein macht schon deutlich, in was für einer Ausnahmesituation sich das Land befindet. Eigentlich soll der Inauguration Day ja ein Freudentag sein. Diesmal ist alles anders. Washington, zumindest das Zentrum, gleicht einer Geisterstadt. Und Muriel Bowser, die Bürgermeisterin, fordert ihre Landsleute in Kalifornien, Texas oder Wisconsin ausdrücklich auf, der Hauptstadt fernzubleiben. Biden, der in 36 Berufsjahren im Senat nahezu täglich mit der Bahn von seinem Wohnort Wilmington nach Washington und zurück fuhr, wollte auch diesmal mit dem Zug kommen. Am Mittwoch hat er den Plan aufgegeben. Sicherheitsbedenken. So oder so, es ist die Festung Washington, in der er seinen Schwur leistet. Über 20 000 Nationalgardisten stehen nächste Woche bereit für den Fall, dass Anhänger Trumps ihr nächstes Störmanöver starten. Schon jetzt bewachen Männer im Tarnfleck die zweieinhalb Meter hohen Eisenzäune, die neuerdings einen geschlossenen Ring ums Kapitol bilden. Sie tragen Sturmgewehre und kugelsichere Westen, alle sechs, sieben Meter steht einer von ihnen an dem schwarzen Zaun. Die Straßen rings ums Parlament sind weiträumig abgeriegelt. Überall Betonbarrieren, überall Sperrholzplatten vor Glasfronten. Am Mittwoch, als das Repräsentantenhaus über ein Impeachment-Verfahren gegen Donald Trump abstimmte, hielten mehrere Hundert Nationalgardisten im Parlament Wache.

Es gibt Experten, die prophezeien, dass sich am Inauguration Day mit ziemlicher Sicherheit nicht wiederholt, was am 6. Januar geschah. Nicht in Washington. Andererseits kommen mit jedem Tag neue Details über die Erstürmung des Kapitols ans Licht, und sie tragen nicht dazu bei, die Nerven zu beruhigen in einer ohnehin schon akut verunsicherten Stadt. Es war nicht nur ein Haufen von Randalierern, der spontan losmarschierte. Zu den Eindringlingen gehörten auch Leute, die sich gründlich vorbereitet hatten und offenbar genau wussten, was sie taten. Eric Munchel, ein 30-Jähriger aus Nashville, inzwischen festgenommen, hatte Kabelbinder dabei, wie sie benutzt werden, um Festgenommenen die Hände auf dem Rücken zu fesseln. Im Raum steht die Frage, ob er, unterstützt von anderen, Politiker als Geiseln nehmen wollte. Cleveland Meredith, angereist aus Colorado, schrieb in einer Textnachricht, er wolle Nancy Pelosi, der Parlamentspräsidentin, eine Kugel „in die Birne“ jagen. Aus Rocky Mount, einer Kleinstadt in Virginia, fuhren zwei Polizisten nach Washington, um an der Gewaltorgie teilzunehmen, auch sie wurden mittlerweile verhört.

Dann wäre da noch der Verdacht, dass Beamte der Capitol Police mit den Eindringlingen kooperierten, statt sich ihnen in den Weg zu stellen. Drei wurden vom Dienst suspendiert, gegen 17 laufen Ermittlungen. Und möglicherweise waren Insider aus dem Kongress heraus daran beteiligt, den Angriff zu planen. Noch ist es ein Gerücht, doch es wird immer lauter diskutiert.

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