Einmarsch in Nordsyrien geht weiter Der türkische Weg der Zerstörung

Ankara/Berlin/Damaskus · Der türkische Präsident Erdogan will sich durch nichts aufhalten lassen. Der Vormarsch in Syrien geht weiter, obwohl dramatische Folgen drohen.

 Rauschwaden steigen an der Grenze zu Syrien nach Angriffen des türkischen Militärs auf. 30 bis 35 Kilometer tief sind die Einheiten ins Nachbarland vorgerückt.

Rauschwaden steigen an der Grenze zu Syrien nach Angriffen des türkischen Militärs auf. 30 bis 35 Kilometer tief sind die Einheiten ins Nachbarland vorgerückt.

Foto: dpa/Emrah Gurel

Die schlimmsten Befürchtungen des Westens scheinen sich zu bestätigen. Mit Erschrecken und Empörung beobachten die Regierungen der EU-Staaten, was die türkische Offensive in Nordsyrien anrichtet.

So brachen fast 800 Angehörige von Kämpfern der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) aus einem Gefangenenlager aus und und flohen nach Berichten von Anwohnern Richtung Al-Rakka, der früheren Hochburg des IS. Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte verließ ein Teil der Wachen das Lager bei Ain Issa, nachdem es in der Nähe türkische Luftangriffe und Gefechte gegeben hatte. International besteht die Sorge, dass der türkische Angriff gegen die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) den Kampf gegen die IS-Miliz schwächt und es der Extremistengruppe erlaubt, sich neu zu formieren.

Außerdem bahnt sich jetzt schon ein Flüchtlingsdrama an. Rund 130 000 Menschen wurden laut UN-Angaben seit Beginn der Offensive am Mittwoch vertrieben. Die meisten von ihnen hätten Unterschlupf bei Bekannten und Freunden in Syrien gefunden, hieß es. Andere seien in Auffanglagern untergekommen. Die Vereinten Nationen rechnen damit, dass bis zu 400 000 Menschen in Kürze humanitäre Hilfe benötigen werden. Die kurdisch geleitete Verwaltung in der Region warnte vor einer humanitären Katastrophe.

Die türkische Armee und verbündete Rebellen rückten am Sonntag weiter vor und stehen nun 30 bis 35 Kilometer tief im Nachbarland. Dabei lieferten sie sich am Sonntag erneut heftige Gefechte mit der YPG. Über die Zahl der Opfer seit Beginn des Angriffs gab es widersprüchliche Angaben. Die Syrische Beobachtungsstelle meldete, seit Beginn der Kämpfe seien mindestens 52 Zivilisten getötet worden. Die Aktivisten erklärten zudem, dass seitdem mehr als 100 Kämpfer in Reihen der von der YPG angeführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) und mehr als 70 Kämpfer der mit der Türkei verbündeten Milizen sowie acht türkische Soldaten ums Leben gekommen seien. Nach Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums wurden dagegen lediglich zwei Soldaten bei dem Militäreinsatz getötet.

Je länger der Vormarsch andauert, desto energischer reagieren die Nato-Partner. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) forderte den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in einem Telefonat zum sofortigen Stopp der Militäroffensive auf. Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) gab am Wochenende bekannt, dass keine Lieferungen von Waffen mehr genehmigt würden, die in Syrien eingesetzt werden könnten. Frankreich schränkte ebenfalls seine Rüstungsexporte in die Türkei ein. Schweden, die Niederlande, Finnland und Norwegen hatten dies schon zuvor getan. Mögliche EU-Sanktionen gegen die Türkei sollten am Montag Thema bei einem Außenministertreffen in Luxemburg und am Donnerstag beim EU-Gipfel in Brüssel Thema werden.

Schweden hatte sich am Freitag für ein EU-weites Waffenembargo gegen die Türkei ausgesprochen und Wirtschaftssanktionen sowie Strafmaßnahmen gegen Einzelpersonen ins Gespräch gebracht. Italien, einer der wichtigsten Waffenlieferanten der Türkei, kündigte am Sonntag an, sich für ein solches Waffenembargo auf EU-Ebene stark machen zu wollen. Auch die französische Regierung warf das Thema Sanktionen auf. Die USA behalten sich Sanktionen ebenfalls weiterhin vor. Diese könnten klein starten oder von maximalem Druck sein, was die türkische Wirtschaft zerstören würde, sagte US-Finanzminister Steven Mnuchin.

Erdogan zeigte sich von den Sanktionsdrohungen unbeeindruckt. Wer glaube, die Türkei werde wegen Wirtschaftssanktionen oder Waffenembargos von ihrem Weg abweichen, irre sich, sagte Erdogan. Erdogan griff die Europäer scharf an. „Steht ihr auf unserer Seite oder auf jener der Terrororganisation?“, fragte er in einer Rede in Istanbul. Die Türkei sei ein Nato-Partner und die Kurdenmiliz YPG, gegen die die Offensive läuft, eine „Terrororganisation“. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu drohte erneut damit, Millionen syrischer Flüchtlinge aus der Türkei über die Grenze nach Europa zu lassen.

Unterdessen ordnete US-Präsident Donald Trump den Rückzug weiterer US-Soldaten aus Nordsyrien an. Es bestehe die Gefahr, dass die USA zwischen zwei sich gegenüberstehenden Armeen gerieten, die in Nordsyrien vorrückten, sagte US-Verteidigungsminister Mark T. Esper. Man spreche von weniger als 1000 Soldaten, die aus Nordostsyrien abgezogen werden sollen, sagte er. Anfang vergangener Woche hatten die USA bereits rund 50 Soldaten abgezogen. Die Entscheidung wurde von Kritikern als grünes Licht für Erdogans Offensive gewertet. Außerdem warfen sie der US-Regierung vor, die kurdischen Einheiten im Stich zu lassen, obwohl sie wesentlich am gemeinsamen Kampf gegen den IS beteiligt waren.

Während sich die USA zurückziehen, schaut die syrische Regierung dem Vormarsch der Türken nicht mehr tatenlos zu. Syrische Truppen ziehen laut dem syrischen Staatsfernsehen nach Norden, um sich den Angreifern entgegenzustellen. Auch ein Vertreter der syrischen Kurden und eine Beobachtergruppe berichteten, syrische Regierungstruppen stünden für einen Einzug in Städte unter kurdischer Kontrolle bereit, aus denen die US-Truppen angesichts der türkischen Offensive abziehen. Die syrisch-kurdischen Kräfte hätten mithilfe russischer Vermittlung die Vereinbarung erzielt, dass syrische Regierungstruppen in bestimmte Grenzstädte entsandt würden, sagte der Kurdenvertreter, der nicht namentlich genannt werden wollte.

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