„Neue Dimension“ des Krieges Staudamm-Katastrophe in der Ukraine: Was bekannt ist – und was nicht

Update | Nowa Kachowka · Nahe der ukrainischen Stadt Nowa Kachowka zerstört eine heftige Explosion einen wichtigen Staudamm. Es fällt das Wort Kriegsverbrechen. Doch Verantwortlichkeit und Motiv bleiben zunächst unklar.

Staudamm in Südukraine zerstört - Schwere Überschwemmungen drohen​
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Staudamm in Südukraine zerstört - Schwere Überschwemmungen drohen

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Foto: dpa/Uncredited

In dem seit mehr als 15 Monaten andauernden Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist die Explosion am Kachowka-Staudamm ein weiterer fürchterlicher Tiefpunkt. Nach der Zerstörung auch des angrenzenden Wasserkraftwerks sind noch viele Fragen offen.

Was wir wissen

Das Gebiet: Der Kachowka-Staudamm und das angrenzende Wasserkraftwerk liegen in der Stadt Nowa Kachowka in dem von Russland besetzten Teil der ukrainischen Region Cherson. Russland hatte das Nachbarland Ukraine im Februar 2022 überfallen und dann auch das Gebiet Cherson besetzt. Die gleichnamige Gebietshauptstadt ist aber unter ukrainischer Kontrolle, Städte südlich des Dnipro wie Nowa Kachowka sind hingegen in russischer Hand. Der Fluss, der in dieser Gegend etwa die Frontlinie darstellt, wird in Nowa Kachowka zum sechsten und letzten Mal vor dem Schwarzen Meer auf 200 Kilometer Länge gestaut.

Die Verwüstungen: Nach einer schweren Explosion an dem wichtigen Staudamm ist auch das angrenzende Wasserkraftwerk nach Angaben beider Kriegsparteien betroffen. Der nahe der Kriegsfront gelegene und Mitte der 1950er Jahre in Betrieb genommene Staudamm ist zerstört. Auch das Wasserkraftwerk ist komplett ruiniert. Vermutet wird, dass der Damm gesprengt wurde. Dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zufolge soll sich die Detonation am frühen Dienstagmorgen gegen 02.50 Uhr Ortszeit (01.50 Uhr MESZ) zugetragen haben.

Die Vergangenheit: Schon lange wurde befürchtet, dass der Staudamm zerstört und das Gebiet überflutet werden könnte. Denn es ist nicht das erste Mal, dass er Ziel von Attacken wird. Im Herbst 2022 etwa hatten ukrainische Kräfte die Brücke über den Staudamm mit Präzisionsschlägen angegriffen und den russischen Nachschub gestört. Russische Truppen wiederum hatten bei Rückzügen mit kontrollierten Sprengungen weitere erhebliche Schäden angerichtet. Bald war die Brücke nicht mehr passierbar. Für besondere Beunruhigung sorgte, als die Besatzer im November die Evakuierung Nowa Kachowkas ankündigten.

Das Atomkraftwerk: Für das am nördlichen Ende des Stausees gelegene Atomkraftwerk Saporischschja bestehe keine unmittelbare Gefahr, heißt es übereinstimmend von der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) und dem russischen Atomkonzern Rosenergoatom. Der IAEA zufolge werden aber in dem von Russland besetzten AKW Maßnahmen zum Weiterbetrieb der Kühlsysteme getroffen, die normalerweise mit dem aufgestauten Wasser gespeist werden. Verhindert werden muss, dass die Reaktorkerne und der Atommüll gefährlich überhitzen.

Was wir nicht wissen

Die Verantwortung: Moskau und Kiew weisen sich gegenseitig die Schuld an der Explosion zu. Während die Ukraine Russland Staatsterrorismus vorwirft und die Tat mit dem Einsatz einer Massenvernichtungswaffe vergleicht, beschuldigt Moskau ukrainische Truppen des Beschusses und einer vorsätzlichen Sabotage. Keine der beiden Seiten legte bislang Beweise vor. Auch der Westen macht Russland für die Tat verantwortlich. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wirft Moskau vor, immer stärker zivile Ziele anzugreifen. Für Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg zeige die Tat „einmal mehr die Brutalität von Russlands Krieg in der Ukraine“. Der britische Außenminister James Cleverly spricht von einem „Kriegsverbrechen“.

Das Motiv: Spekuliert wird, dass der Vorfall ein russischer Sabotageakt sein könnte, um eine ukrainische Gegenoffensive auszubremsen. Moskau streitet das ab. Die Überschwemmungen betreffen besonders die von Russland besetzte Region südlich des Dnipro, die als ein Hauptziel eines solchen möglichen Vormarsches gilt. Der Militärexperte Carlo Masala von der Bundeswehr-Universität München sieht im Gespräch mit „t-online“ Russland in der Verantwortung. Moskau wolle eine Gegenoffensive der Ukraine behindern.

Die Auswirkungen: Noch unklar sind, wie sehr die Überschwemmungen das Gebiet verwüsten. Weite Teile der Region könnten unter Wasser stehen. Die Großstadt Cherson liegt rund 50 Kilometer Luftlinie flussabwärts. Der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal sprach schon kurze Zeit nach der Explosion von einer Überschwemmungsgefahr für bis zu 80 Ortschaften. Wissenschaftler der Hochschule Magdeburg-Stendal haben in einer frühen Modellierung errechnet, dass 60 000 Menschen betroffen sein könnten, etwa ein Drittel davon gefährdet. Dem Gouverneur des Verwaltungsgebiets Cherson, Olexander Prokudin, zufolge sind 16 000 Menschen in der Gefahrenzone. Die EU sprach von Hunderttausenden Zivilisten, deren Leben gefährdet sei. Informationen zu möglichen Verletzten gibt es zunächst nicht.

Die Umweltkatastrophe: Nach nicht unabhängig prüfbaren Angaben der ukrainischen Führung sind mindestens 150 Tonnen Maschinenöl in den Fluss Dnipro gelangt. 300 weitere Tonnen Öl drohten noch auszulaufen. Auch Flora und Fauna werden sicherlich in Mitleidenschaft gezogen.

Die Versorgung: Südlich gelegene Orte und auch die von Russland annektierte Schwarzmeer-Halbinsel Krim könnte eine Knappheit bei der Wasserversorgung drohen, denn sie werden aus dem Kachowka-Stausee beliefert. Das wird sich in den kommenden Tagen zeigen. Auch Ortschaften stromaufwärts könnten betroffen sein, wenn das riesige Wasserreservoir etwa für die Landwirtschaft fehlt. Die Zerstörung des Wasserkraftwerks könnte zudem zu den Energieproblemen der Ukraine beitragen.

Original-Meldung vom 6. Juni:

Im von Russland besetzten Teil des südukrainischen Gebiets Cherson sind ein wichtiger Staudamm und das angrenzende Wasserkraftwerk zerstört worden. Befürchtet werden schwere Überschwemmungen. Nach ukrainischen Angaben sind in der „kritischen Zone“ rund um die Anlage nahe der Stadt Nowa Kachowka etwa 16 000 Menschen zuhause. Kiew und Moskau beschuldigten sich gegenseitig, für die Sprengung verantwortlich zu sein. Spekuliert wurde, dass der Vorfall ein russischer Sabotageakt sein könnte, um eine ukrainische Gegenoffensive auszubremsen. Russland führt seit mehr als 15 Monaten einen Angriffskrieg gegen das Nachbarland.

Ukraine beschuldigt Russland - Moskau dementiert

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj machte „russische Terroristen“ für die Sprengung des Damms verantwortlich. Auf Internet-Videos war zu sehen, wie große Wassermassen aus der Mauer strömten. Präsidentenberater Mychajlo Podoljak schrieb auf Twitter, Russland habe offensichtlich das Ziel, unüberwindbare Hindernisse für die geplante ukrainische Großoffensive zu schaffen. Dies sei der Versuch, das Ende des Krieges hinauszuzögern und ein vorsätzliches Verbrechen.

Die russischen Besatzer hingegen nannten Beschuss durch die ukrainische Armee als Grund für die Zerstörungen an Damm und Kraftwerk. Die Angaben beider Seiten ließen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen.

Russland hatte das Nachbarland Ukraine im Februar vergangenen Jahres überfallen und dann auch das Gebiet Cherson besetzt. Im vergangenen Herbst gelang der ukrainischen Armee die Befreiung eines Teils der Region - auch der gleichnamigen Gebietshauptstadt Cherson. Städte südlich des Dnipro blieben allerdings unter russischer Kontrolle, auch die Staudamm-Stadt Nowa Kachowka.

Schwere Überschwemmungen befürchtet

Der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal sprach von einer Überschwemmungsgefahr für bis zu 80 Ortschaften. Die Zerstörung werde zu einer Umweltkatastrophe führen. Der Militärgouverneur des Gebiets, Olexander Prokudin, warnte, binnen fünf Stunden könne der Wasserstand eine kritische Höhe erreichen. Der russische Besatzungschef von Nowa Kachowka, Wladimir Leontjew, räumte ein, dass es auch zu Problemen bei der Wasserversorgung auf der bereits 2014 von Russland annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim kommen könnte, südlich von Cherson. Diese wird mit Wasser aus dem Kachowka-Stausee beliefert.

Das ukrainische Militär begann auf der rechten Seite des Flusses Dnipro - wo auch die von den Ukrainern befreite Gebietshauptstadt Cherson liegt - mit Evakuierungen.

Angrenzendes Wasserkraftwerk komplett zerstört

Beiden Seiten zufolge wurde auch das an den Staudamm angrenzende Wasserkraftwerk zerstört. Der von Russland eingesetzte Bürgermeister Wladimir Leontjew sagte, es sei „offensichtlich“, dass das Kraftwerk nicht mehr repariert werden könne. Der ukrainische Betreiber der Anlage sprach von kompletter Zerstörung.

Der Staudamm wurde Mitte der 1950er Jahre in Betrieb genommen. Er ist am Lauf des Dnipro die sechste und letzte Staustufe vor dem Schwarzen Meer. Die Anlage macht den flachen Strom schiffbar. Sie staut das Wasser auf 200 Kilometer Länge zwischen Saporischschja und Nowa Kachowka und hält etwa 18 Milliarden Kubikmeter Wasser. Aus dem Reservoir wurden weite Regionen im Süden bis hin zur Krim bewässert.

Außerdem wird Strom erzeugt mit einem Wasserkraftwerk, das nach Betreiberangaben 334 Megawatt Leistung hat. Weil es im Süden der Ukraine kaum Querungen über den Dnipro gibt, verliefen auch eine Straße und eine Bahnlinie über den Staudamm. Sie waren aber bereits nach Kämpfen im Herbst vergangenen Jahres kaum noch nutzbar.

EU-Ratspräsident schockiert über Explosion

Bestürzt zeigte sich auch EU-Ratspräsident Charles Michel. „Schockiert über den beispiellosen Angriff auf den Nowa-Kachowka-Staudamm“, schrieb er auf Twitter. „Die Zerstörung ziviler Infrastruktur gilt eindeutig als Kriegsverbrechen - und wir werden Russland und seine Stellvertreter zur Rechenschaft ziehen.“ Er werde das Thema beim nächsten EU-Gipfel Ende Juni aufbringen und mehr Hilfe für die überfluteten Gebiete vorschlagen.

Für das nordöstlich gelegene Atomkraftwerk Saporischschja droht nach Angaben der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) keine unmittelbare Gefahr. „IAEA-Experten am Atomkraftwerk Saporischschja beobachten die Situation genau“, teilte die Behörde mit. Ein Sprecher des russischen Atomkonzerns Rosenergoatom sagte der Agentur Interfax ebenfalls, das AKW am Fluss Dnipro sei nicht betroffen. Die Atom-Anlage ist von russischen Truppen besetzt.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat Russland vorgeworfen, immer stärker zivile Ziele zu attackieren. „Das ist ja auch etwas, das sich einreiht in viele, viele der Verbrechen, die wir in der Ukraine gesehen haben, die von russischen Soldaten ausgegangen sind“, sagte der Kanzler am Dienstag beim „Europaforum“ des WDR in Berlin auf eine Frage nach möglichen Konsequenzen aus der Staudamm-Explosion. Die russischen Streitkräfte würden auch Städte, Dörfer, Krankenhäuser, Schulen und Infrastrukturen angreifen. „Deshalb ist das etwas, das eine neue Dimension hat, aber zu der Art und Weise passt, wie Putin diesen Krieg führt.“

(dpa)
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