Land am Horn von Afrika ist noch lange nicht demokartiefähig Schwierige Wahlen im Hexenkessel Äthiopien

Addis Abeba · Auch unter Ministerpräsident und Nobelpreisträger Abiy Ahmed ist es nicht gelungen, das Land am Horn von Afrika demokratiefähig zu machen. Die Welt blickt mit Sorge auf den anhaltenden Konflikt in Tigray.

 Flüchtlingskinder spielen in einer Grundschule in der äthiopischen Stadt Abi Adi, in der sie mit ihren Familien aus der Konfliktregion Tigray Zuflucht gefunden haben. Im zweitbevölkerungsreichsten Land Afrikas soll ein neues Parlament gewählt werden. Doch die vielen drängenden Probleme wie ein zementiertes Stammesdenken, Hunger und Armut sind noch lange nicht gelöst.

Flüchtlingskinder spielen in einer Grundschule in der äthiopischen Stadt Abi Adi, in der sie mit ihren Familien aus der Konfliktregion Tigray Zuflucht gefunden haben. Im zweitbevölkerungsreichsten Land Afrikas soll ein neues Parlament gewählt werden. Doch die vielen drängenden Probleme wie ein zementiertes Stammesdenken, Hunger und Armut sind noch lange nicht gelöst.

Foto: dpa/Ben Curtis

Äthiopien befindet sich drei Jahre nach dem Amtsantritt seines seinerzeit mit vielen Vorschusslorbeeren bedachten Premierministers Abiy Ahmed in einer tiefen politischen und sozialen Krise. Die Gründe sind vielfältig und bedingen einander zum Teil: Erstens ein seit sechs Monaten anhaltender Bürgerkrieg im nördlichen Tigray, bei dem kein Ende absehbar ist. Zweitens ein sich zuspitzender außenpolitischer Konflikt mit den Anrainerstaaten Sudan und Ägypten um Äthiopiens gigantisches Nil-Staudammprojekt „Gerd“ (Grand Ethiopian Renaissance Damm), die dadurch ihre Wasserversorgung gefährdet sehen. Einen militärischen Konflikt mit ihnen kann sich die äthiopische Regierung nicht erlauben. Gibt es drittens doch ethnische Spannungen in weiten Landesteilen, begleitet von Massakern und Vertreibungen – von 1,8 Millionen Binnenflüchtlingen ist die Rede.

Hinzu kommt viertens die zunehmende Verelendung der ärmeren Bevölkerung aufgrund von Arbeitslosigkeit, steigenden Nahrungsmittelpreisen und einer Inflationsrate von rund 20 Prozent. Begleitet ist all dies fünftens von einem rasanten Währungsverfall des äthiopischen Birr, der binnen Jahresfrist mehr als ein Drittel seines Werts einbüßte. Damit nicht genug, galoppieren sechstens die Corona-Fallzahlen, wodurch siebtens der Tourismus als Job- und Devisenbringer wegfiel. Aus all diesen Gründen sinkt achtens die internationale Investitionsbereitschaft. Lauter Dominoeffekte, die das Land in eine Abwärtsspirale brachten, die in einen Teufelskreislauf münden könnte.

Inmitten dieser kulminierenden Problemlage sollte in dem ostafrikanischen Land Anfang Juni eine neue Regierung gewählt werden. Aus organisatorischen Gründen, wie es heißt, wurden die Parlamentswahlen nun um mindestens drei Wochen verschoben. Ethnische Konflikte erschwerten die Wahlregistrierung. Bislang haben sich 36 Millionen registriert, rund zwei Drittel der Wahlberechtigten. Mehr als 50 Prozent in Afrikas zweitbevölkerungsreichstem Land sind jünger als 18. Angekündigt sind die aufgrund der Corona-Krise bereits mehrfach verschobenen Wahlen als die ersten freien in der Geschichte des Landes. Zahlreiche Oppositionelle sitzen jedoch im Gefängnis. Auch ist von einem transparenten Wahlkampf um die Gunst der rund 115 Millionen Äthiopier nicht viel zu sehen und zu hören.

Einem Messias gleich wurde Abiy Ahmed vor drei Jahren enthusiastisch gefeiert. Er predigte nationale Versöhnung, entließ tausende politische Gefangene, besetzte sein Kabinett zur Hälfte mit Frauen, leitete Reformen ein, sagte der Korruption den Kampf an und fädelte einen Friedensschluss mit Eritrea ein, mit dem sein Land 20 Jahre lang verfeindet war. Maßgeblich für Letzteres erhielt Äthiopiens Hoffnungsträger 2019 den Friedensnobelpreis. Es schien so, als kehre mit ihm am Horn von Afrika mehr Ruhe und Frieden ein.

Längst jedoch ist Abiys Stern gesunken. Anspruch und Wirklichkeit klaffen allzu weit auseinander. Er werde sein Land einen, hat er stets propagiert. Das Gegenteil ist eingetreten: Inzwischen droht Äthiopien auseinanderzufallen. Seit November herrscht in der abtrünnigen Tigray-Provinz Bürgerkrieg. Die dortige Regionalregierung aus den Reihen der TPLF (Tigray People Liberation Front) hatte den Einmarsch der Regierungsarmee provoziert, indem sie Abiys Autorität gezielt infrage gestellt hatte. Mutmaßlich, weil die TPLF von ihm 1918 kaltgestellt worden war. Seit 1991 hatte sie nach dem maßgeblich von ihr herbeigeführten Fall des kommunistischen Derg-Regimes fast 30 Jahre lang Äthiopien auf selbstherrliche, jedoch wirtschaftlich zukunftsweisende Weise gelenkt und regiert.

Die Brutalität, mit der in Tigray seit einem halben Jahr gemordet, vergewaltigt, geschändet, geplündert und vertrieben wird, bezeichnete das Oberhaupt der christlich-orthodoxen Kirche, selbst tigrayischer Abstammung, unlängst in einer Videobotschaft als Genozid. Eine von nicht wenigen Beobachtern der Tigray-Lage geteilte Aussage, die Abiy gefährlich werden: Der Einfluss der Kirche im Land ist riesig. Die Gewaltexzesse, viele wohl von Eritreas Armee begangen, sind Augenzeugenberichten zufolge in ihrer Bestialität unbeschreiblich. Als Kriegswaffen dienen auch Vergewaltigungen und die Aushungerung der Bevölkerung. Bauern werden gehindert, Felder zu bestellen oder diese abgefackelt. Um die TPLF-Guerilla zu demoralisieren, wird offenkundig eine ganze Volksgruppe malträtiert. Mindestens zwei Millionen Tigray leiden Hunger. Es fehlt an fast allem: an Trinkwasser, Nahrung, Latrinen, an Medikamenten.

Dass Äthiopiens Premier Ende November behauptete, der Konflikt sei beendet und kein Zivilist verletzt oder getötet worden, war eine infame Lüge. Genauso wie Abiys spätere Beteuerung, seine Armee betreibe die Niederschlagung der TPLF ohne Eritreas militärische Hilfe. Erst als die Beweislage erdrückend wurde, gab Abiy zu, dass der eritreische Diktator Isayas Afewerki, einer der ruchlosesten Machthaber Afrikas, mit ihm in Tigray gemeinsame Sache macht. Allen gegenteiligen Ankündigungen zum Trotz bis heute. Insider vermuten, dass der mit dem Nobelpreis für Abiy geadelte Friedensschluss 2019 ein Kriegsbündnis war: ein strategischer Schachzug, um die im Guerillakrieg geübte, äußerst zähe TPLF-Miliz durch den Schulterschluss mit Eritreas Armee leichter zu eliminieren.

Derweil brennt es auch in anderen Landesteilen: in der Afar- und Somali-Region genauso wie in Benishangul-Gumuz, an der Grenze zum Sudan ebenso wie in den bevölkerungsreichsten Landesteilen: Amhara und Oromia. Nie war der Ethno-Nationalismus in Äthiopien hitziger als heute. Nie nahm er eine so offen zur Schau gestellte rassistische Fratze an. Das Land erntet nun, was 1991 mit der fatalen Gründung der äthiopischen Föderation und deren ethnischer Segregation gesät wurde: die Absolutsetzung des Stammesdenkens.

Dass Abiy bei den Wahlen die absolute Mehrheit verfehlen wird, gilt als wahrscheinlich. Mangels Alternativen dürfte er wohl dennoch als Sieger daraus hervorgehen, jedoch mit seiner 2020 als unionistische Sammlungsbewegung gegründeten Prosperity Party auf Koalitionspartner angewiesen sein. Klar ist: Der Enthusiasmus von 2018, als man ihn am liebsten auf Händen getragen hätte, ist Ernüchterung und Skepsis gewichen. In und um Addis Abeba hat Abiy zwar in bemerkenswertem Tempo reizvolle Freizeitparks anlegen oder als Beitrag gegen den Klimawandel Abermillionen Bäume pflanzen lassen – das Los der Armen aber hat sich keinen Deut verbessert. Im Gegenteil: Immer mehr können sich immer weniger leisten, weil alles immer teurer wird.

Hinzu kommt, dass in einem derart instabilen Land Investoren fernbleiben. Dauerhypotheken wie die notorischen Stromausfälle und die Willkür der äthiopischen Bürokratie, die ihre sozialistische Herkunft bis heute pflegt, tun das Ihre dazu. Eine Folge: Die (ohnehin trügerische) Hoffnung, Äthiopien zum neuen Mekka internationaler Textil-Billigproduktion zu machen, beginnt sich wohl schon wieder zu zerschlagen. Wie zu hören ist, soll etwa H & M sein gesamtes Personal aus den erst kürzlich aus dem Boden gestampften Nähfabriken des Landes wieder abgezogen haben.

Die nationale Karte, die Abiy spielt, sticht derzeit nur im Zusammenhang des Staudammprojekts. Das wohl eher taktische Säbelrasseln der Sudanesen und Ägypter – mit dem Ziel, bei den Verhandlungen über Dauer und Menge der Staudamm-Füllungen viel für sich herauszuholen –, stärkt etwas die nationalen Reihen. Ändert aber wenig daran, dass die Äthiopier lieber die ethnische Karte ausspielen. Alarmierend ist die Schadenfreude vieler über die Verfolgung der Tigray: Viele denken, sie erhielten nun die Quittung für ihre jahrzehntelange Unterdrückung anderer Volksgruppen.

 Der Stern von Äthiopiens Premier und Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed ist längst gesunken. 
  Foto: Ayene/AP

Der Stern von Äthiopiens Premier und Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed ist längst gesunken. Foto: Ayene/AP

Foto: AP/Mulugeta Ayene

Dass die TPLF gleichgesetzt wird mit den lediglich sechs Prozent der Bevölkerung ausmachenden Tigray, zeigt: Das Stammesdenken überschattet das politische Denken. Auch deshalb dürfte es noch lange dauern, ehe das Land am Horn von Afrika demokratiefähig sein wird. Man kann nur hoffen, dass der wahrscheinliche Wahlsieger Abiy die hehren Versprechungen nicht Lügen strafen wird, mit denen er 2018 antrat. Und er nicht mit harter Hand die ,,neue Blume“ – so die Wortbedeutung des Namens der Hauptstadt – zerdrücken wird.

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