Interview mit Katarina Barley „Diese EU hat Probleme“

Brüssel · Das Europäische Parlament braucht mehr Macht, fordert seine Vizepräsidentin – und sieht noch weiteren Reformbedarf.

Am Mittwoch stimmt das Europäische Parlament in Straßburg über die neue Kommission unter ihrer Präsidentin Ursula von der Leyen ab. Die Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Katarina Barley, gibt sich zuversichtlich, dass die Wahl gelingt. Trotzdem sieht die SPD-Frau in Sachen EU einigen Handlungsbedarf.

Die Wahl Ursula von der Leyens fiel denkbar knapp aus. Rechnen Sie jetzt für die gesamte Kommission mit einer größeren Mehrheit?

BARLEY Ich gehe davon aus, auch wenn es nach wie vor Unzufriedenheit gibt. Ein Beispiel ist das Mammutressort des französischen Kommissars, der für Binnenmarkt, Digitales und Verteidigungsindustrie zuständig sein soll. Das ist von einer Person nicht zu schaffen. Die Gefahr, dass wichtige Themen vergessen werden, ist zu groß.

Welche zum Beispiel?

BARLEY Zu diesem Ressort zählen auch Kultur und Bildung. Die haben es nicht mal bis in den Titel geschafft. Wir befürchten einfach, dass hier ein mächtiger Verantwortungsbereich geschaffen und mit einem französischen Vertreter besetzt wurde, weil Deutschland die Kommissionspräsidentin bekommen hat. Diese große Nähe zu den Staats- und Regierungschefs finde nicht nur ich problematisch.

Auch die Besetzung der Erweiterungspolitik durch den ungarischen Kommissar war umstritten.

BARLEY Das ist ja auch kaum nachzuvollziehen. Schließlich hat Ungarn mit der Rechtsstaatlichkeit ganz offensichtlich ein Problem. Nun soll aber der Kommissar aus eben diesem Land mit neuen Beitrittskandidaten über Rechtsstaatlichkeit und Demokratie verhandeln. Da werden wir sehr genau aufpassen müssen – ich würde die Wahl nicht voraussetzen, wir haben auch einige Abweichler.

Rechtsstaatlichkeit ist das große Thema der nächsten fünf Jahre. Was muss da getan werden?

BARLEY Wir stehen in dieser Frage an einem Scheideweg. Die Union muss sich entscheiden, wie ernst sie ihre Werte nehmen und wie wir sie durchsetzen wollen. Es ist ja offensichtlich, dass das vorgesehene Verfahren gegen Länder, die Rechtsstaatlichkeit und Demokratie nicht ernst nehmen, nicht mehr funktioniert und auch nichts bewirkt. Der Zwang zur Einstimmigkeit bei der Feststellung der Verstöße ist kontraproduktiv. Denn es gibt immer ein befreundetes Land, das sein Veto einlegt und deshalb ein echtes Strafverfahren unmöglich macht. Deshalb brauchen wir neue Regeln.

Man braucht ja auch Sanktionen. Soll man Ländern, bei denen Verstöße festgestellt wurden, die europäischen Gelder streichen, das Mitspracherecht in wichtigen Gremien entziehen?

BARLEY Wir wissen, dass – um beim Beispiel Ungarns zu bleiben – Premierminister Viktor Orbán seine Macht mit dem Geld der übrigen EU-Partner finanziert. Es gibt Belege für haarsträubende Fälle von Korruption in diesem Land.

Also Subventionen streichen?

BARLEY Ja, manche Zuwendungen sollte man in einem solchen Fall streichen können, damit die EU nicht irgendwelche Regierungsparteien unterstützt, die ihre Macht missbrauchen. Aber dann muss man Mittel und Wege finden, um europäische Subventionen weiter der Bevölkerung zugute kommen zu lassen. Denn die Menschen dürfen nicht für die demokratische Unreife ihrer Regierung bestraft werden.

Die EU will besser werden, um schlagkräftiger und effizienter zu handeln. Zukunftskonferenz heißt das Projekt. Was wird das?

BARLEY Ich halte nichts von einer Schaufenster-Veranstaltung. Wir wollen Ergebnisse, die dann auch wirklich zu spürbaren Verbesserungen führen. Außerdem sollten wir darauf bestehen, dass die Bürger beteiligt werden.

Sie schließen Änderungen der europäischen Verträge ein?

BARLEY Wenn wir schon so etwas machen, dann sollten wir keine Schere im Kopf haben. Diese EU hat Probleme, sie kommt in wichtigen Fragen nicht weiter. Was nötig ist, um das zu ändern, sollten wir tun. Und wenn dazu Änderungen der europäischen Verträge notwendig sind, dann dürfen die nicht tabu sein.

Ursula von der Leyen steht als nächste Kommissionspräsidentin dafür, dass keiner der Spitzenkandidaten der Parteien zum Zuge kam. Was muss bis zum nächsten Urnengang 2024 anders werden?

BARLEY Es mag schwierig sein, aber ich halte europäische Listen und europäische Wahlprogramme der Parteienfamilien für einen wichtigen Fortschritt. Und ich will eine Europawahl mit echten Spitzenkandidaten, von denen einer oder eine am Ende auch Kommissionschef wird.

Trotzdem bleibt viel Macht bei den Staats- und Regierungschefs, die ja mitbestimmen.

BARLEY Das Europäische Parlament kann bisher nicht einmal Gesetze selbst vorschlagen. Dies wird man ändern müssen, denn in einer Demokratie, wie wir sie alle wünschen, ist das Parlament der Souverän des Volkes. Insofern wünsche ich mir, nicht nur, aber auch für die Spitzenkandidatenfrage eine Machtverschiebung zugunsten des Parlamentes.

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