Nach Mord an 33-Jähriger Aufschrei gegen Gewalt an Frauen

London · Nach dem Mord an Sarah Everard in London herrschen Wut und Entsetzen in den sozialen Medien. Der Fall hat eine Debatte um die Sicherheit von Frauen ausgelöst.

 Forensiker suchen nach Spuren hinter einem Haus in Deal (England). Die Leiche von Sarah Everard wurde einige Kilometer entfernt gefunden, nachdem die 33-Jährige eine Woche zuvor in London verschwunden war.

Forensiker suchen nach Spuren hinter einem Haus in Deal (England). Die Leiche von Sarah Everard wurde einige Kilometer entfernt gefunden, nachdem die 33-Jährige eine Woche zuvor in London verschwunden war.

Foto: AP/Gareth Fuller

Sie war lediglich auf dem Weg nach Hause an jenem Mittwochabend. Es war neun Uhr. Es war dunkel. Die Straßen im Süd-Londoner Viertel Clapham waren zwar gut beleuchtet, aber aufgrund des Lockdowns verlassener als sonst. Nach einem Besuch bei einem Freund, nicht weit von ihrer Wohnung im hippen wie gewöhnlich belebten Brixton entfernt, telefonierte die junge Frau zunächst noch mit ihrem Partner. Er sollte gegen halb zehn der Letzte sein, der von Sarah Everard gehört hat. Die 33-jährige Britin kam nie in ihrer Wohnung an.

Es begann eine großangelegte Suchaktion, „Please Help“-Plakate klebten an Lampenmasten und in Schaufenstern, in den sozialen Medien meldeten sich besorgte Bekannte und bewegte Fremde zu Wort. Sarah Everards Gesicht kannte plötzlich ganz Großbritannien. Am Mittwoch, eine Woche nach ihrem Verschwinden, entdeckte die Polizei dann Leichenteile in einem Wald in Ashford in der Grafschaft Kent. Einen Tag später folgte die traurige Bestätigung: Es sind jene von Everard.

Ein Mann wurde derweil bereits am Dienstag verhaftet – und auch diese Nachricht löste Bestürzung aus. Denn es handelt sich ausgerechnet um einen Polizeibeamten. Der Verdächtige war zum Zeitpunkt von Everards Verschwinden nicht im Dienst. Seine Freundin wird der Beihilfe beschuldigt. Die Ermittlungen laufen.

Der Fall erschüttert das Königreich – und insbesondere Frauen fühlen sich betroffen. Denn jede denkt das gleiche: Dies hätte auch ich sein können. Meine Schwester, Tochter, Nachbarin, Freundin, Mutter. Sarah Everard steht für den Albtraum, der schon Mädchen in jungem Alter umtreibt. Sie steht für alle Frauen, die täglich allein zu Fuß unterwegs sind – ob im Dunkeln oder am hellichten Tag, die Angst haben, wenn Männer zu nah kommen; die angepöbelt werden oder sexuell belästigt; die Umwege gehen, weil sie den direkten Weg für unsicher halten oder dieser unbeleuchtet ist; die verfolgt werden und nach Hause hasten; die vorgeben, am Telefon zu sein, um potenzielle Angreifer abzuschrecken; die sich im Laden um die Ecke verschanzen, weil sie sich bedrängt fühlen; die für den Notfall ihre Schlüssel als Waffe in der Hand halten oder extra flache Schuhe tragen, um gegebenenfalls losrennen zu können.

In den sozialen Netzwerken haben sich Tausende Frauen zu Wort gemeldet und von ihren persönlichen Erfahrungen sowie ihren Mitteln zum Selbstschutz erzählt. Die Geschichten klingen schrecklich – und nach Alltag. „Frauen haben genug“, sagte Mandu Reid von der „Women’s Equality Party“. „Wir wollen auf der Straße gehen dürfen ohne Angst vor Belästigung oder Gewalt.“ Die Wut vieler Britinnen wurde noch angeheizt von dem Ratschlag der Polizei, in dieser Woche nicht mehr alleine nachts unterwegs zu sein. Warum sollen die Opfer bestraft werden? Warum ist es auch im Jahr 2021 nicht selbstverständlich sicher für Frauen, abends oder nachts alleine unterwegs zu sein? Für den heutigen Samstag riefen Aktivistinnen unter dem Titel „Reclaim These Streets“ („Holt euch diese Straßen zurück“) zu einer Mahnwache in einem Park nahe des Orts von Sarah Everards Verschwinden auf.

Besonders tragisch ist, dass die Marketing-Managerin selbst alle möglichen Sicherheitsvorkehrungen getroffen hatte: Sie trug farbenfrohe, helle Kleidung und Turnschuhe, ging entlang von großen Straßen und war am Telefon. Es war nicht genug.

 Der Mord an Sarah Everard schockiert Großbritannien.

Der Mord an Sarah Everard schockiert Großbritannien.

Foto: AP/Metropolitan Police via AP

In die Debatte um die Sicherheit von Frauen schalten sich nun auch immer mehr Männer ein, fragen nach Tipps, wie sie als unangenehm empfundene Situationen vermeiden können, etwa indem sie die Straßenseite wechseln, wenn eine Frau vor ihnen geht. Ist dies der Moment, in dem sich endlich etwas grundlegend ändert? Die Organisatorin der ersten „Reclaim the Night“ („Holt euch die Nacht zurück“)-Protestzüge, Al Garthwaite, forderte von Männern, die Schuld nicht indirekt bei den Opfern zu suchen und etwa nach Vorfällen zu fragen, wie spät es war, was die Frau getragen hat oder warum sie alleine unterwegs war. Vielmehr sollten sie sich als Verbündete von Frauen anbieten. „Zu helfen heißt, aufzustehen und zu sagen: Alles, was Frauen daran hindert auszugehen und sich dabei sicher zu fühlen, ist inakzeptabel.“

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