Protest vor Kommunalwahl Protest in Moskau gegen die Mächtigen

Moskau · Mehr als 1000 Menschen werden bei einer Demo in Russlands Hauptstadt festgenommen. Sie beklagen Manipulationen vor der Kommunalwahl.

 Polizisten in Moskau führen eine Demonstrantin ab. Bei dem Protest gegen den Ausschluss von Oppositionskandidaten vor der Regionalwahl im September wurden mehr als 1000 Menschen festgenommen.

Polizisten in Moskau führen eine Demonstrantin ab. Bei dem Protest gegen den Ausschluss von Oppositionskandidaten vor der Regionalwahl im September wurden mehr als 1000 Menschen festgenommen.

Foto: dpa/Alexander Zemlianichenko

(dpa/ap) Auf Moskaus Prachtstraße, die direkt zum Kreml führt, stehen sich zwei Gruppen wie an einer Front gegenüber. Tausende Demonstranten mit Bannern auf der einen Seite, Polizisten mit Schlagstöcken auf der anderen. Der Zorn der Protestierenden richtet sich gegen die Stadtbehörden: den kremltreuen Bürgermeister Sergej Sobjanin, die Wahlkommission und auch gegen die Einsatzkräfte. „Ihr seid eine Schande für Russland“, skandieren sie gegenüber dem Rathaus mitten auf der Twerskaja-Straße.

„Russland wird frei sein“, hört man noch weit in die Seitengassen hinein, wohin die Demonstranten von der Polizei gedrängt werden. Manche klettern über Absperrungen, verschwinden in Parks, einige suchen Schutz in einer kleinen Kirche. Stundenlang ziehen sie am Samstag durch die Stadt, am Ende werden mehr als 1000 Menschen festgenommen – junge Studenten, Familienväter und auch Rentner landen im Polizeibus. Die Beobachtergruppe OVD-Info sprach am Sonntagmorgen von 1373 Festgenommenen, so vielen wie seit zehn Jahren nicht mehr in Moskau. 3500 Demonstranten zählt die Polizei.

Viele Moskauer gehen seit mehr als zwei Wochen täglich auf die Straße. „Dopuskaj“ – auf Deutsch etwa: „Lass‘ sie zu“ – ist die stets wiederholte Forderung. Hintergrund ist, dass in wenigen Wochen das Stadtparlament der Zwölf-Millionen-Metropole neu gewählt wird, aber sich auf der Wahlliste kaum Oppositionspolitiker finden. Dutzende Kandidaten durften nicht antreten; die Wahlkommission diagnostizierte schwere Formfehler.

Die bekannten Kremlkritiker Ilja Jaschin, Ljubow Sobol oder auch Dmitri Gudkow hätten Unterstützungserklärungen gefälscht, hieß es. Die Opposition hält dies für ein plumpes Manöver der Behörden, denn sie könnten der angeschlagenen Kremlpartei Geeintes Russland die Stimmen wegnehmen.

Die Regierungspartei mit ihrem Vorsitzenden Dmitri Medwedew kämpft nämlich an einer eigenen Front: Die russische Bevölkerung macht sie für die schlechte Wirtschaftslage im Land verantwortlich. Die Kremlpartei hat eine umstrittene Rentenreform durchgebracht, gleichzeitig sinkt neben den Löhnen auch der Lebensstandard vieler Russen. Für die Partei Geeintes Russland könnte die Regionalwahl, in der auch über 16 Gouverneure in der Provinz abgestimmt wird, deshalb dramatisch ausfallen.

„Seien wir ehrlich: Uns geht es beschissen. Die Renten sind niedrig, das Gesundheitssystem ist ein Witz. Wir wollen was ändern, werden daran aber vom System gehindert“, sagt die Moskauerin Irina bei der Demonstration. Die Politiker Gudkow und Sobol schafften es nicht mal zum Protest, sie wurden bereits auf dem Weg zur Demo festgenommen. Genauso erging es Putins schärfstem Kritiker Alexej Nawalny. Er hatte federführend zu dem Protest aufgerufen und 30 Tage Arrest kassiert. Am Sonntag wurde er wegen einer akuten allergischen Reaktion in ein Krankenhaus gebracht. Sein Gesundheitszustand sei zufriedenstellend, berichteten Ärzte laut Agentur Interfax.

„Ich habe immer Angst vor der Festnahme. Jedes Mal, wenn ich zum Protest auf die Straße gehe“, flüstert Natalja. Ihre Familie lebt seit Generationen in der russischen Hauptstadt. Sie sitzt auf einer Parkbank mitten im Geschehen, in der Hand hält sie den Tolstoj-Klassiker „Krieg und Frieden“. Hinter ihr steht ein Polizist mit Schlagstock in der Hand. „Aber noch mehr Angst habe ich vor der Zukunft: Dass diese Schummeleien und Manipulationen Alltag werden.“

Was die Moskauerin ausspricht, denken einer Umfrage zufolge viele Russen. Sie fühlen sich bei wichtigen Entscheidungen übergangen, wie eine Befragung des Instituts Lewada unlängst ergab. In ganz Russland gibt es oft Fälle, bei denen umstrittene Gesetze oder auch Bauvorhaben quasi ohne Bürgerbeteiligung durchgedrückt werden.

Und so regt sich Widerstand: In Jekaterinburg am Ural setzen sich die Bewohner wegen eines Kirchenbaus gegen die einflussreiche Russisch-Orthodoxe Kirche zur Wehr. Im Juni gingen die Menschen für den zu Unrecht festgenommenen Journalisten Iwan Golunow auf die Straße – mit Erfolg. Er kam frei.

„Die Menschen merken, sie können auf lokaler Ebene durchaus etwas erreichen“, sagt die Politologin Tatjana Stanowaja. „Deswegen will und kann der Kreml kein Fenster für die Opposition aufmachen.“ Im Machtzentrum Moskau müsse er hart durchgreifen, bevor die Büchse der Pandora geöffnet und die Lage schwer steuerbar werde.

Präsident Wladimir Putin kommentierte die Lage wenige Minuten von seinem Arbeitsplatz am Kreml entfernt nicht. Am Protesttag tauchte er in einem Mini-U-Boot am Finnischen Meerbusen. Sein Statthalter Sobjanin kommentierte die Lage vor seinem Büro mit wenigen Sätzen auf Twitter: „Das alles führt zu nichts Gutem.“

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