Corona-Mutation in Großbritannien „Lost Christmas“: London zieht die Notbremse

London · Wegen einer Corona-Mutation kommt es auf der Insel zum harten Weihnachts-Lockdown. Die EU reagiert.

 Nicht nur die Londoner Regent Street wurde leer(er): Für die britische Hauptstadt und den Südosten gilt seit Sonntag eine Ausgangssperre.

Nicht nur die Londoner Regent Street wurde leer(er): Für die britische Hauptstadt und den Südosten gilt seit Sonntag eine Ausgangssperre.

Foto: AP/Stefan Rousseau

Millionen Briten hatten auf ein paar Tage im Kreise ihrer Liebsten gehofft. Was am Wochenende dann aber folgte, waren Verzweiflung, Traurigkeit, Chaos und Enttäuschung. Die britische Regierung ließ kurzfristig die sogenannte „Weihnachtsblase“ platzen. Erst am Mittwoch hatte Premier Boris Johnson auf die Opposition geschimpft, dass diese mit ihrer Forderung nach härteren Beschränkungen Weihnachten absagen wolle. Nun übernahm das der Regierungschef in einer neuen Kehrtwende selbst.

Am Samstagabend verschärfte Johnson den Lockdown und sorgte damit für Krisenstimmung auf der Insel. Sechs Tage, bevor die Briten am 25. Dezember, dem Christmas Day, traditionell Weihnachten feiern, verhängte der Konservative für rund 16,4 Millionen Menschen in London und im Südosten Englands eine Ausgangssperre. Rund ein Drittel der Bevölkerung darf seit Sonntag nur noch aus wichtigen Gründen das eigene Zuhause verlassen, sowie keinen anderen Haushalt mehr im Inneren treffen, auch nicht während der Feiertage. Bis auf Geschäfte, die lebensnotwendige Produkte verkaufen, hat alles bis auf Weiteres geschlossen. Es gilt zudem ein Reiseverbot für Einwohner unter der neuen Corona-Warnstufe 4. Sie dürfen die Zone nicht verlassen. „Lost Xmas“, das verlorene Weihnachten, titelte der Sunday Mirror in Anlehnung an das berühmte Lied von Wham, „Last Christmas“.

Die drastischen Vorschriften sorgten am Samstagabend für tumultartige Szenen an Londoner Bahnhöfen, als Tausende Menschen mit Last-Minute-Aktionen versuchten, noch aus der Metropole zu flüchten. Zahlreiche Menschen holten ihre Verwandten in der Nacht per Auto aus der Hauptstadt ab. Grund für die scharfen Restriktionen sei eine neue Variante des Coronavirus, erklärte Johnson. Er warnte, diese Mutation sei um bis zu 70 Prozent ansteckender als die bekannte Form und breite sich rasch aus, weshalb sich zahlreiche Krankenhäuser bereits an ihrer Belastungsgrenze befänden. „Wenn das Virus seine Angriffsmethode ändert, müssen wir unsere Verteidigungsmethode ändern.“ Gleichwohl betonte der Premier, es gebe weder Hinweise darauf, dass Impfstoffe weniger effektiv gegen die neue Variante seien, noch darauf, dass die Krankheit schwerer verlaufe oder es zu mehr Todesfällen komme.

Handelt es sich beim Verweis auf die Variante mit dem Namen VUI2020/12/01 um eine Warnung, weil tatsächlich eine neue, deutlich erhöhte Gefahr besteht – oder nutzt die Regierung die Mutation, um von eigenen Versäumnissen in der Pandemie abzulenken? Labour-Chef Keir Starmer monierte, dass Johnson „wieder bis zur letzten Minute“ gewartet habe, um eine Entscheidung zu treffen. Seit Wochen drängen führende Wissenschaftler und Mediziner des Landes den Premier, die Beschränkungen zu verschärfen und Lockerungen zu Weihnachten zurückzunehmen, da die Infektionszahlen weiter besorgniserregend steigen. Doch Johnson blieb stur, auch auf Druck in der eigenen konservativen Partei. Wie bereits im Frühjahr ordnete er den zweiten Lockdown im November später an als vom eigenen wissenschaftlichen Beraterstab empfohlen; die Schulen blieben geöffnet. Für Kritik sorgten am Sonntag Berichte, nach denen die neue Variante bereits weitaus länger bekannt sei als von Johnson am Wochenende angedeutet. Hinzu kommt, dass Mutationen von Viren gewöhnlich und zu erwarten sind.

Indes sorgte die Nachricht für Alarmstimmung in der EU. Einige Länder preschten vor; Belgien stoppte die Flugverbindungen sowie Eurostar-Züge aus Großbritannien. Auch in den Niederlanden und Italien dürfen vorerst keine Flüge aus dem Königreich landen – später kündigte auch Deutschland einen solchen Schritt an. Die Bundesregierung will zudem den Reiseverkehr nach Südafrika, wo es ebenfalls zu einer Mutation gekommen sein soll, einschränken. Auf EU-Ebene liefen Gespräche zur Lage. Am Abend kündigte Frankreich ein vorläufiges Einreiseverbot aus Großbritannien an.

Schlange stehen für den letzten Zug nach Paris: Auf Londons Bahnhöfen – hier St. Pancras – wurde es nach der Ankündigung des Weihnachts-Lockdowns voll.

Schlange stehen für den letzten Zug nach Paris: Auf Londons Bahnhöfen – hier St. Pancras – wurde es nach der Ankündigung des Weihnachts-Lockdowns voll.

Foto: dpa/Stefan Rousseau

Auf der Insel fragte derweil die Daily Mail stellvertretend für Millionen Menschen: „Wird dieser Albtraum jemals enden?“ Derzeit sieht es nicht aus, als ob die Maßnahmen bald wieder geändert würden. Das Coronavirus, so gab Gesundheitsminister Matt Hancock am Sonntag zu, sei „außer Kontrolle“.

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