Flüchtlingsroute Mittelmeer Libysche Milizen sichern den neuen „Erfolg“ auf dem Mittelmeer

Paris · Kanzlerin Angela Merkel saß gestern in Paris mit ihren Amtskollegen aus Europa und Staatschefs aus Afrika zusammen, um über Lösungen in der Flüchtlingskrise zu beraten. Eine besondere Rolle bei dem Treffen dürfte die Lage in Libyen gespielt haben. Der Mann der Stunde dort ist der Chef der zwar schwachen, aber international anerkannten Übergangsregierung Fajes al-Sarradsch, der ebenfalls bei den Gesprächen zugegen war.

Al-Sarradsch gilt als Hauptverantwortlicher für den drastischen Rückgang der Überfahrten von der libyschen Küste nach Italien in diesem Sommer. Im August des Vorjahres erreichten noch 21 294 Menschen Italien über die zentrale Mittelmeer-Route, in diesem Monat waren es bislang erst 2932, das ist ein Rückgang um etwa 90 Prozent. Normalerweise wagen wegen der günstigen Wetterbedingungen besonders viele Menschen im Sommer die Überfahrt.

Nach der offiziellen Lesart geht die überraschende Trendwende in erster Linie auf die Arbeit der von al-Sarradsch kontrollierten und von der EU unterstützten libyschen Küstenwache zurück. Diese stand lange in einem zweifelhaften Ruf, inzwischen führt die italienische Regierung sie als Hauptgrund für den Rückgang der Überfahrten an und verschweigt eine andere wesentliche Ursache: Offenbar unterbindet vor allem eine der zahlreichen in Libyen tätigen Milizen die Abfahrt der Flüchtlinge nahe der Küstenstadt Sabratha.

In der Umgebung des 70 Kilometer westlich von Tripolis gelegenen Ortes legten lange Zeit die meisten Flüchtlingsboote ab. Die Nachrichtenagentur Reuters berichtete über eine aus mehreren hundert Zivilisten, Polizisten und Militärs bestehende Gruppe namens „Brigade 48“, die das Territorium um Sabratha kontrolliert und bis vor kurzem selbst am Menschenschmuggel beteiligt gewesen sein soll. Flüchtlinge sollen von den Mitgliedern der Bande in einem Lager zusammen gepfercht worden sein. Die Miliz sei von einem „früheren Mafiaboss“ ins Leben gerufen worden. Ihren Sitz soll sie in der Polizeikaserne der Stadt haben und mit der Stadtverwaltung kooperieren.

Internationale Beobachter bestätigten das. Seit einiger Zeit gebe es eine neue bewaffnete Gruppe in der Stadt, die offenbar dafür sorgt, dass die Menschenschmuggler nicht mehr ablegen, sagte Mattia Toaldo, Libyen-Experte des European Council for Foreign Relations (ECFR). Es gebe Hinweise darauf, dass ein in der Region mächtiger Milizen- und Schmuggelchef die Seiten gewechselt habe. Als Grund wird angegeben, dass die Miliz nach Legitimation und finanzieller Unterstützung durch die von al-Sarradsch geführte Übergangsregierung in Tripolis strebt. Das Machtgefüge in Libyen ist seit dem Ende der Gaddafi-Herrschaft 2011 brüchig, kurzfristige Interessen und schnelle Geschäfte bestimmen die Handlungen der Akteure.

Dabei stellt sich die Frage, ob sich Italien und die EU in die Hände ehemaliger Menschenhändler begeben, die die Flüchtlinge jederzeit als Druckmittel benutzen können. Dass Sabratha bis zuletzt das Zentrum der Schlepperorganisationen war, bestätigte auch die EU-Grenzschutzagentur Frontex. Auseinandersetzungen in der Umgebung der Stadt hätten den Menschenschmuggel zuletzt verringert, berichtete die Grenzschutzagentur Mitte August. Inzwischen scheint die Lage unter Kontrolle zu sein, allerdings zu fragwürdigen Bedingungen, nämlich durch die Kooperation mit Milizen.

Die Verwicklung von Milizen in die undurchsichtigen Machtverhältnisse Libyens wirft auch ein Schlaglicht auf die italienische Regierung. Italien, wo im Frühjahr Parlamentswahlen stattfinden, hat ein besonderes Interesse daran, die Fluchtroute über das Mittelmeer zu schließen. Im Jahr 2016 kamen 181 000 Menschen, dieses Jahr waren es bislang etwas mehr als 98 000. Italiens Innenminister Marco Minniti hält die Zusammenarbeit mit Libyen deswegen für einen Erfolg. Doch die Konsequenzen seiner Politik werfen Fragen auf.

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