„Komplexer Angriff“ am Flughafen Viele Tote bei Anschlag in Kabul

Kabul · Am Flughafen Kabul spielen sich Tragödien ab. Verzweifelte Menschen warten auf Rettung und werden von Terroristen getötet.

Kabul: Viele Tote bei Anschlag nahe des Flughafens
Foto: dpa/Wali Sabawoon

Tausende Schutzsuchende, dicht gedrängt an den Eingangstoren des Flughafens Kabul. US-Soldaten, die den Airport absichern. Chaos vor den Toren, das effektive Sicherheitsvorkehrungen fast unmöglich macht. Seit Tagen gibt es außergewöhnlich konkrete Warnungen, dass die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in dieser brisanten Gemengelage einen Anschlag planen könnte. „Wir wissen, dass die Terrordrohungen sich massiv verschärft haben, dass sie deutlich konkreter geworden sind“, sagte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer am Donnerstag. Wenige Stunden später wird aus den Warnungen tödliche Realität.

Das US-Verteidigungsministerium spricht von einem „komplexen Angriff“ am Flughafen. Zwei Explosionen erschüttern die Gegend, Dutzende Menschen werden getötet oder verletzt. Unter den Toten sind auch zwölf US-Soldaten - es sind die ersten seit Februar vergangenen Jahres, die in Afghanistan gewaltsam ums Leben kommen. Der US-Sender CNN zeigt Fernsehbilder, auf denen blutüberströmte Afghanen von Helfern auf Schubkarren in Sicherheit gebracht werden. Der gut vernetzte afghanische Journalist Bilal Sarwary - der bereits ausgeflogen wurde - schreibt auf Twitter unter Berufung auf Augenzeugen, ein Selbstmordattentäter habe sich in einer Menschenmenge in die Luft gesprengt, ein weiterer Angreifer habe das Feuer eröffnet.

Die Taliban haben den Krieg nach 20 Jahren gewonnen, der Westen zieht ab. Ein Ende der Gewalt bedeutet das für die Afghanen trotzdem nicht. „Eine Blutlache. Leichen in einem Abwasserkanal. Afghanistan blutet weiter. Zerstörte Familien. Die unendliche Tragödie für die Menschen in Afghanistan“, schreibt Sarwary zu einem furchtbaren Handy-Video, das er nach dem Anschlag auf Twitter teilt. Zu dem Blutbad kommt es, obwohl die Evakuierungsmission in Kabul auf ihr Ende zusteuert. Schon am kommenden Dienstag wollen die USA alle Soldaten aus Afghanistan abgezogen haben. Die letzten geplanten Evakuierungsflüge der Bundeswehr sind kurz vor dem Anschlag gestartet.

Der Verdacht richtet sich auf den örtlichen Ableger der Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Die IS-Zelle nennt die Region - die sowohl afghanisches als auch pakistanisches Gebiet umfasst - „Provinz Khorasan“. Die Amerikaner (die bei der Terrormiliz von Isis statt vom IS sprechen) bezeichnen den Zweig daher als Isis-K. Den IS-Kämpfern in Afghanistan sind die militant-islamistischen Taliban häufig nicht radikal genug gewesen. Der IS und die Taliban sind verfeindet, in der Vergangenheit haben sie sich Gefechte geliefert. Der IS hat in Afghanistan immer wieder schwere Anschläge verübt.

Der Anschlag vom Donnerstag ist eine Botschaft an die Welt, aber auch eine Blamage für die Taliban, die nach ihrer Machtübernahme nicht für Sicherheit in der Hauptstadt sorgen können. In Berlin wird analysiert, dass die Taliban selber kaum ein Interesse an Terrorangriffen haben dürften, da diese den Abzug der westlichen Truppen womöglich verzögern könnten. Den neuen Machthabern ist daran gelegen, die ausländischen Soldaten möglichst bald außer Landes zu haben - das war schließlich das ultimative Ziel ihres 20-jährigen Kampfes. Ein Taliban-Sprecher sagt am Donnerstag: „Wir verurteilen diesen grausamen Vorfall aufs Schärfste und werden alles tun, um die Schuldigen vor Gericht zu bringen.“

Der Anschlag ist auch eine weitere Demütigung für den Westen: Nicht einmal beim Abzug sind die Soldaten und ihre afghanischen Helfer sicher. Umso bitterer ist das Scheitern in Afghanistan, dem ersten Schauplatz des „Krieges gegen den Terror“, den US-Präsident George W. Bush nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ausrief. Von Afghanistan aus ordnete Al-Kaida-Chef Osama bin Laden die Terroranschläge an, was zum US-Militäreinsatz und zum Sturz der Taliban führte. Die Taliban und das Terrornetzwerk Al Kaida - das ist die Geschichte einer langen und engen Partnerschaft.

Der Sieg der Taliban ist auch ein später Triumph Al-Kaidas, ausgerechnet kurz vor dem 20. Jahrestag der Anschläge. „Das beweist aus Sicht der Organisation, dass ihre Strategie aufgegangen ist“, sagt Guido Steinberg, Terrorismus-Experte der in Berlin ansässigen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). „Al-Kaida hat zusammen mit den Taliban die Macht übernommen.“

US-Präsident Joe Biden begründet den Abzug aus Afghanistan vor allem damit, dass Al-Kaida von dort aus nicht mehr die USA bedroht. Verschwunden ist das Terrornetz aus Afghanistan aber nicht. In einem Bericht des UN-Sicherheitsrats vom Juni hieß es, Al-Kaida sei in mindestens 15 der 34 afghanischen Provinzen weiterhin präsent. „Die Taliban sind weiterhin eng mit Al-Kaida verbunden und zeigen keine Anzeichen für einen Abbruch der Beziehungen.“ Ein bedeutender Teil der Führung der Organisation sei im Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan - und strebe an, ihren „sicheren Hafen“ zu bewahren.

Fachleute sehen in dem Taliban-Vormarsch nicht zuletzt einen enormen Propaganda-Erfolg für die Dschihad-Bewegung in der ganzen Welt. Anhänger radikaler und gewaltbereiter Gruppen fühlen sich in ihrer Ansicht bestätigt, dass sie über die „Ungläubigen“ im Westen siegen werden, wenn sie nur lange genug standhaft durchhalten. „Das ist ein Weckruf für die globale dschihadistische Bewegung“, warnt Steinberg.

Die Taliban beteuern, sie würden weder Al-Kaida noch anderen Gruppen gestatten, von Afghanistan aus Angriffe zu starten. Wie glaubwürdig ist dieses Bekenntnis? Derzeit falle es dem Terrornetzwerk schwer, außerhalb der Region Anschläge zu verüben, sagt Steinberg. Für ihn ist auch ein Szenario denkbar, in dem die Taliban versuchen, Angriffe im Ausland zu unterbinden. Eine Entwarnung bedeutet das nach Steinbergs Einschätzung aber nicht: „Selbst wenn sich die Taliban insgesamt mäßigen, wächst die Gefahr, dass sich die Radikaleren nicht an die Vorgaben halten“, sagt er. Schließlich gebe es innerhalb der Taliban eine starke dschihadistische Strömung. Deren Ziel ist eindeutig: Sie will ihren Kampf in andere Weltregionen tragen.

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