Jean-Claude Junckers Bilanz „Mister Euro“ nimmt in Brüssel seinen Abschied

Brüssel · Es gibt Sätze, die begleiten einen Politiker sein ganzes Leben lang. Jean-Claude Juncker war noch ein junger Mann, als er einen der ersten deutschen Soldatenfriedhöfe in seiner luxemburgischen Heimat besuchte.

 Nicht nur als Kommissionschef prägte er Europas Politik: Der Luxemburger Jean-Claude Juncker

Nicht nur als Kommissionschef prägte er Europas Politik: Der Luxemburger Jean-Claude Juncker

Foto: dpa/Philipp von Ditfurth

Im Anblick der schier endlosen weißen Kreuze formulierte er seine Botschaft, die auch ein Teil seines Erbes ist: „Wer an Europa zweifelt, sollte öfter Soldatenfriedhöfe besuchen.“ Wie viel Potenzial in diesen Worten steckt, erlebte Juncker viele Jahrzehnte später. Da saß er 2018 im Oval Office neben US-Präsident Donald Trump. Ihm erzählte er, dass es in Luxemburg ein Gräberfeld mit über 5000 weißen Kreuzen für im Zweiten Weltkrieg gefallene US-Soldaten gibt – und dass dieses Areal nicht zu Luxemburg, sondern zu den USA gehört. Bis heute. Trump sei, so berichteten Beobachter, tief beeindruckt und bewegt gewesen.

Juncker wird am 9. Dezember 65 Jahre alt. Am 1. Dezember verlässt der luxemburgische Christdemokrat die europäische Bühne. 20 Jahre lang war er Finanzminister des Großherzogtums, 18 Jahre zugleich Premierminister, acht Jahre stand er der Euro-Gruppe vor, fünf Jahre war er Präsident der Europäischen Kommission, der erste auf diesem Stuhl, den die EU-Bürger 2014 direkt wählen konnten. „Abschied tut immer ein bisschen weh, aber der Abschied bringt mich nicht um“, sagte Juncker, als er sich im Oktober im Parlament verabschiedete. Fragt man ihn nach seiner Bilanz, hagelt es Zahlen. Die Beschäftigungsquote in Europa liege bei 73,8 Prozent. 75 Prozent hatte er selbst für 2020 als Ziel ausgegeben. Der nach ihm benannte „Juncker-Fonds“, der eigentlich „Europäischer Fonds für strategische Investitionen“ (EFSI) heißt, hat 450,6 Milliarden Euro für grenzüberschreitende Projekte gebracht und eine gute Million neuer Jobs geschaffen. Die Griechenland-Krise ist überstanden, die jüngsten Zahlen sprechen von einem Erfolg.

Dabei misslang der Auftakt seiner Amtszeit gründlich. Kaum hatte Juncker die Kommission nach Art einer Regierungsbehörde umgebaut und wollte loslegen, fiel ihm die LuxLeaks-Affäre auf die Füße. Journalisten enthüllten, dass die luxemburgischen Finanzbehörden jahrelang Steuersparmodelle mit Großkonzernen vereinbart hatten. Es schien undenkbar, dass der Premier- und Finanzminister davon nichts gewusst haben sollte. Juncker stellte sich an die Spitze der Bewegung, forderte seine neue Wettbewerbshüterin zur Aufklärung auf. Heraus kamen Vorgänge, die nicht illegal, aber doch anrüchig waren – in 24 Mitgliedstaaten. Mitte 2016 erschütterte die Mehrheit der Briten die Union, als sie für den Brexit stimmte. Juncker musste europäische Trauerarbeit listen.

Und dann gab es da noch die Bilder, die viele mit einer Mischung aus Mitleid und Unverständnis sahen. Juncker, der bei offiziellen Anlässen gestützt werden musste, einmal sogar im Rollstuhl saß. Juncker, der mal torkelte, anderen Staats- und Regierungschefs scheinbar taktlos um den Hals fiel, sie küsste, ihnen durch die Frisur wuschelte. Dass manches Spätfolgen eines schweren Autounfalls sein sollten, bei dem Juncker vor 30 Jahren eine schwere Rückenverletzung davon trug und mehrere Wochen im Koma lag, wollten viele nicht gelten lassen.

Diese Momente dürfen nicht den Blick auf das Besondere seiner „Regentschaft“ verstellen. Der Mann, den sie „Mister Euro“ nannten, der mit Preisen überschüttet wurde, hat die EU mit seiner persönlichen Autorität geprägt. Dies zeigte sich Mitte 2018. Juncker war zu US-Präsident Trump gereist, der mit höheren Zöllen auf europäische Autos drohte. Aussichtslos, sagten viele. Juncker kam zurück, die Zölle wurden ausgesetzt. Es ist die Macht des Überzeugten, nicht des Vertreters eines großen Mitgliedstaates, mit der der Luxemburger wirkte – und Politik machte.

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