Weitreichende Maßnahmen Die Corona-Krise bringt Israels Premier in Nöte

Jerusalem · Not macht erfinderisch. Nach den jüngsten Regeln des Gesundheitsministeriums sind Versammlungen von mehr als zehn Personen gegenwärtig verboten in Israel. Diese Regelung umgingen findige Bürger, als sie am Donnerstag mit langen Autokonvois gegen das demonstrierten, was sie als einen „Angriff auf die Demokratie“ ansehen: mit dem Kampf gegen das Coronavirus begründete weitreichende Eingriffe in die persönlichen Freiheiten, Cyberverfolgung, Unterbrechung des Parlamentsbetriebs und Schließung der Gerichte.

  Ordnete in Corona-Zeiten unter anderem Handy-Überwachung an: Benjamin Netanjahu, Regierungschef Israels.

Ordnete in Corona-Zeiten unter anderem Handy-Überwachung an: Benjamin Netanjahu, Regierungschef Israels.

Foto: dpa/Yonatan Sindel

Hunderte Menschen machten sich nach Polizeiangaben auf der Autobahn auf nach Jerusalem, der Konvoi wurde auf dem Weg gestoppt. Bis in die Hauptstadt schafften es laut Polizei rund 200 Personen. Mehrere Demonstranten wurden festgenommen. Mit Sprechchören wandten sie sich gegen das Vorgehen.

Die eigentliche Kritik hingegen gilt Benjamin Netanjahu, dem Noch-Ministerpräsidenten in der seit mehr als einem Jahr amtierenden Übergangsregierung. Politische Gegner und besorgte Bürger werfen ihm vor, die Corona-Krise für seinen persönlichen Machterhalt auszunutzen. Seine radikalen Maßnahmen gehen vielen zu weit. Besonders scharf in der Kritik steht die Überwachung der Bewegungsprofile von Corona-Erkrankten und ihrer Kontaktpersonen via Handydaten – eine Methode aus dem Arsenal der Terrorbekämpfung. Die Maßnahme wurde zudem an der Knesset vorbei genehmigt und ihre Ausführung in die Hände des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet gelegt – der wiederum einzig dem Regierungschef rechenschaftspflichtig ist.

Tatsächlich scheint Netanjahu politisch von den Auswirkungen der Pandemie zu profitieren. Der Auftakt des Prozesses gegen ihn, geplant für den 17. März, wurde unter dem Notstand um zwei Monate verschoben. Abend für Abend präsentiert der Likud-Chef in Pressekonferenzen zur besten Sendezeit immer drastischere Maßnahmen und Szenarien rund um Covid-19, für Kritiker unnötige Panikmache mit einem einzigen Ziel: Machterhalt.

Bestätigt sehen sie sich durch jüngste Vorgänge im Parlament. Knesset-Sprecher Juli Edelstein riegelte am Mittwoch das israelische Parlament ab und vertagte alle Sitzungen mindestens bis kommenden Montag. Die Neuwahl des Parlamentssprechers, wie sie unter anderem der mit der Regierungsbildung betraute Oppositionsführer Benny Gantz fordert, verhinderte Edelstein mit seinem Veto.

„Corona tötet die Demokratie“, kommentierte der prominente israelische Historiker Juval Noah Harari auf Twitter. Netanjahu habe die Wahlen verloren, dann die Knesset geschlossen, den Bürgern angeordnet, zu Hause zu bleiben und erlasse nun Notstandsanordnungen nach seinem Belieben. „Dies nennt man Diktatur.“ Prominentester Kritiker der Knesset-Abriegelung ist Staatspräsident Reuven Rivlin. Er warnte Edelstein persönlich vor einem Schaden für die demokratische Kultur und forderte ihn auf, die parlamentarischen Aktivitäten auch während der Coronavirus-Krise sicherzustellen.

Die Demonstranten wollen nun weitermachen, bis Israels Demokratie wieder „zurück auf dem richtigen Weg“ sei. Erste Schritte machte am Donnerstagabend das oberste Gericht: Es ließ zwar die Forderung der Regierung nach Handy-Überwachung grundsätzlich zu, erließ aber gleichzeitig eine einstweilige Verfügung, die der Praxis ein Ende androht, sollte es dem Parlament bis Dienstag nicht gelingen, einen Kontrollausschuss einzurichten. Auf eine Petition von Gantz’ Parteienbündnis gegen das Verhalten des Knessetsprechers wird eine Entscheidung des Obersten Gerichts zu Wochenbeginn erwartet.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort