Handelsabkommen Ein neues Kapitel zwischen London und Brüssel

Fünf Jahre Streit gehen an keiner Beziehung spurlos vorüber. Da machen die Europäische Union und das Vereinigte Königreich keine Ausnahme. Wenn nun am 1. Mai endlich der Handelsvertrag zwischen Brüssel und London in Kraft treten kann, hinterlassen die Kombattanten einen erheblichen Flurschaden.

 Kommentarkopf, Fotos: Juha Roininen

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Foto: SZ/Lorenz, Robby

Das Vertrauen zwischen den Regierungen jenseits und diesseits des Kanals ist zutiefst erschüttert. Daran dürfte der zu einer gewissen Hemmungslosigkeit bei der Wortwahl neigende britische Premier Boris Johnson zweifellos zu einem hohen Maße Mitschuld haben. Sein Wort vom „In-Form-Schleifen“ des Handelsabkommens war nicht nur dumm, es hat auch bewirkt, dass die EU-Abgeordneten am Dienstag noch einmal die „Zähne“ des Vertrages betonten. Aber so kommen beide Partner nicht weiter.

Die zentralen Worte heißen jetzt „Vertragstreue“ für alle, um einen „lebendigen Abkommen“ erfüllen zu können. Nach den ersten zwei Monaten mit zum Teil exorbitanten Einbrüchen der gegenseitigen Wirtschaftsbeziehungen kristallisiert sich jetzt schrittweise heraus, an welchen Stellschrauben man zusammen drehen kann, ohne die Souveränität des Vereinigten Königreiches infrage zu stellen und zugleich das Bedürfnis der Kontinentaleuropäer nach Schutz ihres Binnenmarktes zu erfüllen. Formalitäten kann man überprüfen und sich deutlich besser vorbereiten, als einige Unternehmen dies bis zum Start des Vertrages am Jahreswechsel getan hatten. Nur die offene Grenze zwischen Nordirland und Irland muss bleiben. Falls Johnson mit seinem einseitigen Verschieben von Übergangsfristen das noch nicht akzeptiert hat, wird er bei der EU auf Granit beißen.

Ab jetzt müssen beide Seiten die Konfrontation beenden und die noch offenen Fragen klären – idealerweise gemeinsam. Das Bedürfnis der Europäer, die Briten für ihren Ausstieg aus der Gemeinschaft zu bestrafen, hilft ebenso wenig weiter, wie der Versuch Londons, einen geschlossenen Vertrag einseitig anpassen zu wollen. Pandemie, Klimaschutz, Umgang mit Russland, Sanierung der Wirtschaft – die Zahl der politischen Herausforderungen, bei denen Großbritannien und EU gleiche oder sich ergänzende Interessen haben, ist viel zu groß, als dass man sich nicht zusammenraufen könnte und müsste. Genau das erwarten die Bürger jetzt von ihren Regierungen.

Konkret sollten London und Brüssel nun Etappenziele definieren, die eingehalten werden müssen. Denn es fehlen weiter eine Einigung über die Fangquoten und Regeln für die Finanzwirtschaft. Es mangelt an Sicherheit in der Nordirland-Frage und einem europäisch-britischen Vorhof zum Binnenmarkt. Zölle und andere Sanktionen mögen als Drohkulisse für weitere Verstöße gegen Wort und Geist des Handelsvertrages in Ordnung sein, aber nicht jeder Konflikt muss gleich zum Säbelrasseln auf beiden Seiten des Kanals führen. Die sogenannten „Kinderkrankheiten“, von denen die Handelsverbände auf der Insel und auf dem Kontinent berichten, kann man abstellen, damit die Menschen ebenso wie die Wirtschaft und Dienstleister wissen, wie die Beziehungen zu dem Drittstaat Großbritannien jetzt laufen. Dabei geht es um Pragmatismus, nicht um politische Ideologie.

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