Schwere Versäumnisse in der Corona-Krise Johnson gerät immer mehr unter Druck

London · Noch im Februar machte der britische Premier „Arbeitsferien“ auf dem Land, statt an Krisensitzungen zur drohenden Coronavirus-Pandemie teilzunehmen.

 Der britische Premier schwänzte offenbar in den entscheidenden Wochen Ende Januar sowie im Februar fünf Krisentreffen des Kabinetts, um mit seiner Verlobten „Arbeitsferien“ auf dem Land zu verbringen.

Der britische Premier schwänzte offenbar in den entscheidenden Wochen Ende Januar sowie im Februar fünf Krisentreffen des Kabinetts, um mit seiner Verlobten „Arbeitsferien“ auf dem Land zu verbringen.

Foto: dpa/Pippa Fowles

Boris Johnson ist einmal wieder „guter Laune“. Das hat man in den letzten Wochen äußerst häufig gehört. Selbst als der schwer an der Lungenkrankheit Covid-19 erkrankte Premierminister auf der Intensivstation lag, ließ Downing Street die Nation täglich wissen, dass er wahlweise in „guter Stimmung“ oder „extrem guter Stimmung“ sei. Nun erholt sich Johnson auf seinem Landsitz Chequers. Also verkündete Kabinettsminister Michael Gove am Sonntag die frohe Kunde über den Zustand des Premiers, auch wenn dies vermutlich nur ein Teil der Wahrheit war.

Denn hinter den Kulissen dürfte Panik herrschen, seit ein Bericht der  Sunday Times dem Regierungschef schwere Versäumnisse in der Coronavirus-Krise vorwirft. Johnson habe zu Beginn des Ausbruchs wochenlang den Ernst der Lage nicht erkannt oder nicht erkennen wollen. Die Zeitung beschreibt im Detail jene „38 Tage, in denen Großbritannien in die Katastrophe schlafwandelte“. Der Report offenbart vor allem Ignoranz und Leichtsinn von Seiten des Premierministers, der nun zunehmend unter Druck gerät. So schwänzte er in den entscheidenden Wochen Ende Januar sowie im Februar fünf Krisentreffen des Kabinetts, verbrachte Mitte Februar lieber fast zwei Wochen lang „Arbeitsferien“ auf dem Land. Von dort verkündete er die Verlobung mit seiner 32-jährigen Partnerin Carrie Symonds sowie die Botschaft, dass das Paar Nachwuchs erwarte. Zudem musste er laut Medien andere Privatangelegenheiten regeln, wie etwa die Scheidung von seiner Exfrau. Die Ausbreitung des Coronavirus?

Anders als in anderen Ländern hatte Corona in Großbritannien angeblich keine Priorität in der Regierungsspitze, die abgelenkt vom Brexit-Stichtag am 31. Januar, Überschwemmungen und einer Kabinettsumbildung war. Wie ein hochrangiger Berater aus der Downing Street verriet, habe Johnson an Wochenenden nicht gearbeitet, sondern seine Pausen fernab der Hauptstadt genossen. Der Eindruck sei entstanden, als habe der Konservative keine dringende Krisenplanung vorgenommen. „Du kannst nicht im Krieg sein, wenn der Premierminister nicht da ist.“ Dementsprechend leichtfertig behandelten auch seine Mitarbeiter die drohende Pandemie. Damals schon bezeichnete die Opposition von Labour Johnson als „Teilzeit-Premierminister“. Dieser Umstand könnte Tausenden von Menschen das Leben gekostet haben. Denn Johnson war nicht nur abwesend bei jenen wichtigen Meetings. Auch Warnungen von Wissenschaftlern – ausgesprochen im Januar, wiederholt im Februar – stießen auf „taube Ohren“, heißt es. Der Lockdown des Landes kam erst am 23. März auf Druck der Bevölkerung und als die meisten Länder auf dem Kontinent bereits strikte Ausgangsbeschränkungen durchgesetzt hatten. Forderungen in den ersten Wochen des Jahres, den Bestand an Schutzausrüstung aufzustocken, wurden ebenfalls ignoriert. Bis heute klagen Ärzte, Schwestern und Pfleger, dass sie ohne vernünftige Masken und Kittel Patienten behandeln müssen. Dabei galt das Land viele Jahre lang als gut aufgestellt für den Fall einer Gesundheitskrise, wie Wissenschaftler betonen.

Der Sparkurs der Tory-Regierungen nach der Finanzkrise 2008 aber traf den aus Steuermitteln finanzierten nationalen Gesundheitsdienst NHS schwer. Vorbereitungen auf eine Pandemie sowie der Aufbau von Vorräten wurden vernachlässigt. Die zuständige Gesundheitsorganisation, Public Health England, ändert deshalb aktuell regelmäßig die Leitlinien. Es wirkt, als richten sich die Empfehlungen je nach Lagerbestand. Zurzeit soll das Klinikpersonal, falls der Nachschub ausgeht, die Patienten ohne Handschuhe und Schutzkittel untersuchen. Ein Skandal, wie Kritiker monieren. Dutzende Angestellte des NHS, die sich mit dem Coronavirus infiziert haben, sind bereits gestorben.

Insgesamt registrierte das Königreich bis Montag fast 17 000 Krankenhaus-Tote. Es wird geschätzt, dass zusätzlich bis zu 8000 Menschen zu Hause oder in Pflegeheimen verstorben sind. Getestet wird wegen des Mangels an Tests  viel zu wenig. Derweil folgt Großbritanniens Todesrate der Kurve Italiens, obwohl das Königreich einige Wochen Vorlauf und damit Zeit hatte, Vorbereitungen für die Pandemie zu treffen.  Johnson dürfte die „gute Laune“ vergehen, wenn er in naher Zukunft zurück in die Downing Street kehrt.

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