Großbritannien verschärft Maßnahmen Erneute Kehrtwende bei Boris Johnsons Corona-Politik

London · Vor Kurzem rief der britische Premier noch dazu auf, wieder zur Arbeit und in Pubs zu gehen – nun wird das öffentliche Leben wieder heruntergefahren.

Für Premierminister Boris Johnson befindet sich Großbritannien an einem „gefährlichen Wendepunkt“.

Für Premierminister Boris Johnson befindet sich Großbritannien an einem „gefährlichen Wendepunkt“.

Foto: dpa/Aaron Chown

Es ist erst wenige Wochen her, da rief die britische Regierung mit großem Getöse die Bevölkerung dazu auf, an den Arbeitsplatz und ins öffentliche Leben zurückzukehren. Politiker und vorneweg Premier Boris Johnson warnten schlagzeilenträchtig ihre Landsleute, dass diese ihre Jobs verlieren könnten, sollten sie weiterhin vom Küchentisch aus tätig sein. Zudem bezahlte der Schatzkanzler im August teilweise die Restaurantbesuche der Briten. Mit der Aktion „Eatouttohelpout“, „ausgehen, um zu helfen“, sollten die Menschen dazu animiert werden, wieder in Gaststätten, Pubs oder Cafés zu gehen. Die Hälfte der Rechnung wurde vom Finanzministerium übernommen.

Doch die Freiheiten der vergangenen Wochen gehören erst einmal der Vergangenheit an. Und dafür gab Johnson ausgerechnet der Öffentlichkeit die Schuld. Es habe zu viele Verstöße gegen die Regeln gegeben, sagte er am Dienstagabend, als er sich mit einer TV-Ansprache an die Nation wandte. Ernsthaft, emotional und eindringlich appellierte er an seine Landsleute, sich an die Maßnahmen zu halten. Der Kampf gegen die Epidemie sei „die größte Krise, die die Welt in meiner Lebenszeit zu bewältigen hat“. Der Telegraph titelte im Anschluss: „Der zweite Shutdown beginnt“.

Im Königreich steigt seit Tagen die Zahl der Coronavirus-Neuinfektionen drastisch an. So vermeldeten die Behörden in England zuletzt täglich deutlich mehr als 4000 neue Fälle, am Mittwoch waren es sogar 4926 Neuinfektionen – Tendenz steigend. Die Chefwissenschaftler des Landes warnten, dass sich das Ausmaß der Epidemie etwa alle sieben Tage verdoppele. Ginge das so weiter, „könnte Großbritannien Mitte Oktober 49 000 Fälle pro Tag zählen“, so die medizinischen Regierungsberater. Sie schlugen Alarm. Und Johnson reagierte.

Der Premier forderte – in einer erneuten Kehrtwende der Regierung – die Menschen dazu auf, wieder aus dem Homeoffice zu arbeiten, soweit dies möglich sei. Und auch das öffentliche Leben wird aus Angst vor einer zweiten Welle wieder etwas heruntergefahren. So kündigte der Premier eine Sperrstunde für Pubs und Restaurants in England an. Diese müssen ab Donnerstag spätestens um 22 Uhr schließen, daneben wird nur noch Service am Tisch erlaubt sein. Zudem wird es obligatorisch, dass Ladenangestellte, Kellner und Taxifahrer wie -passagiere Gesichtsmasken tragen. Es sei wahrscheinlich, dass die neuen Maßnahmen „für sechs Monate in Kraft bleiben“, sagte Johnson im Parlament. Das Land befinde sich an einem „gefährlichen Wendepunkt“. Gegebenenfalls könnte sogar das Militär hinzugezogen werden, um die Restriktionen durchzusetzen.

Ein zweiter nationaler Lockdown würde „einem Versagen der Regierung“ gleichkommen, schimpfte der Labour-Oppositionschef Keir Starmer. Derweil gab Schottlands Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon sogar noch strengere Maßnahmen bekannt. Seit Mittwoch dürfen sich unterschiedliche Haushalte nicht mehr gegenseitig zu Hause besuchen, ausgenommen sind lediglich Alleinlebende, nicht zusammen wohnende Paare und jene, die auf Kinderbetreuung angewiesen sind.

Bereits seit letzter Woche gilt in England die Regel, dass sich lediglich sechs Menschen, auch Kleinkinder zählen dazu, auf einmal treffen dürfen. Die Obergrenze betrifft sowohl Versammlungen in den eigenen vier Wänden als auch Familientreffen in Parks oder im heimischen Garten. Wer gegen die Bestimmung verstößt, dem drohen bis zu 200 Pfund, knapp 220 Euro, Strafe.

Johnsons Krisenmanagement wird selbst in konservativen Kreisen scharf kritisiert und Beobachter klagen seit Beginn der Pandemie über die verwirrenden Botschaften, die der Premier und sein Kabinett aussenden. Einmal versprach er die „weltbeste“ Corona-Tracing-App, die bis heute nicht existiert. Dann wieder träumte Johnson öffentlich davon, zehn Millionen Tests täglich ab nächstem Frühling anzubieten. Der Realitätscheck zeigt jedoch: Derzeit steht das Testsystem kurz vor dem Kollaps. Viele Briten mit Symptomen können sich nicht testen lassen, weil die Kapazitäten fehlen. Oder aber sie müssen tagelang auf ein Ergebnis warten. In großen Teilen Nordenglands gelten bereits wieder lokale Lockdowns.

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