Lage an EU-Grenze zur Türkei „Wir brauchen eine Allianz der Willigen“

Berlin · Die humanitäre Katastrophe an der Grenze zur Türkei muss schnell behoben werden, sagt die Grünen-Fraktionschefin – durch die EU inklusive Deutschland.

 Die Flüchtlinge brauchen die Hilfe der EU, sagt Katrin Göring-Eckardt, Fraktionsvorsitzende der Grünen.

Die Flüchtlinge brauchen die Hilfe der EU, sagt Katrin Göring-Eckardt, Fraktionsvorsitzende der Grünen.

Foto: dpa/Martin Schutt

Angesichts der Lage an der EU-Grenze zur Türkei muss Deutschland mehr Flüchtlinge aufnehmen, sagt Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt.

Ist der Flüchtlingspakt mit der Türkei gescheitert?

GÖRING-ECKARDT Die aktuellen Entwicklungen zeigen, dass es so nicht weitergeht. Es kann nicht sein, dass Erdogan die Flüchtlinge missbraucht, um Druck auszuüben. Auch darf sich die EU nicht länger freikaufen wollen, weil sie innerhalb der EU-Staaten keine vernünftige Verteilung der Flüchtlinge organisiert bekommt. Erdogan will in erster Linie seine Staatskassen mit EU-Geld füllen. Darum darf es aber nicht gehen.

Erdogan sagt, die Tore seien offen. Wie soll Europa darauf reagieren?

GÖRING-ECKARDT Zuallererst muss jetzt humanitär gehandelt werden. Die Flüchtlinge in der Türkei brauchen weiterhin die Hilfe der EU. Dann müssen sofort Gespräche mit Erdogan sowie der bulgarischen und der griechischen Regierung geführt werden. Die Anrainerstaaten brauchen die Unterstützung der anderen EU-Länder. Auch muss es um einen humanitären Korridor für die Flüchtlinge aus Idlib und schließlich um einen Waffenstillstand gehen.

Das alles ist leichter gesagt als getan. Droht eine ähnliche Flüchtlingskrise wie 2015?

GÖRING-ECKARDT Die jetzige Eskalation in Nordsyrien wird erneut tausende Menschen in die Flucht treiben. Und natürlich geht es nicht darum, dass alle nach Europa wollen. Mein Eindruck ist: Diejenigen, die damals immer gesagt haben, wir wollen daraus lernen, haben offenbar nichts gelernt. Jetzt wäre der Moment, wo sich die Europäer zusammensetzen, um den Druck auf die Kriegsparteien in Syrien zu erhöhen. Darunter fallen für mich auch Individual-Sanktionen gegen Russland.

Keine Sanktionen gegen die Türkei?

GÖRING-ECKARDT Ich glaube nicht, dass Sanktionen gegen Erdogan etwas nützen würden. Die Türkei hat ohne Zweifel sehr viele Flüchtlinge aufgenommen. Das muss man anerkennen. Um deren anständige Versorgung durch Hilfsorganisationen muss es jetzt gehen. Denn wir erleben derzeit eine humanitäre Katastrophe.

Aber wenn Erdogan nicht will? Er sagt, die EU habe den Flüchtlingspakt nicht eingehalten.

GÖRING-ECKARDT Hier geht’s doch eigentlich um etwas ganz anderes: Erdogan hat sich total verkalkuliert bei seiner Beteiligung am Krieg in Syrien. Die Stimmung in der Türkei ist nach dem Tod der türkischen Soldaten in Idlib gekippt. Das alles geht zulasten der Menschen, die auf der Flucht sind. Das ist ein perfides Vorgehen von Erdogan.

Was ist also jetzt zu tun?

GÖRING-ECKARDT Ich erwarte von der Kanzlerin und dem Außenminister, dass sie Druck machen auf die Kriegsparteien. Es wird auf Dauer nicht helfen, einfach nur die Grenzkontrollen zu erhöhen und Frontex auszubauen, wie EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen angekündigt hat. Das Absurde: Damit wird die Festung Europa kurzfristig zwar etwas fester, für die Situation der Menschen in Syrien und in den Flüchtlingslagern ändert sich jedoch nichts.

Müssen Deutschland und Europa wieder mehr Flüchtlinge aufnehmen?

GÖRING-ECKARDT Natürlich. Wenn nicht alle Länder in Europa mitmachen, muss eine Allianz der Willigen vorangehen. Das heißt: Die Staaten, die wollen, nehmen mehr Flüchtlinge auf. Die anderen müssen dann entsprechend bezahlen. Das läuft in Europa bei anderen Fragen auch so. Es gibt zum Beispiel in Deutschland viele Kommunen, die Kapazitäten haben und bereit sind, weitere Flüchtlinge aufzunehmen. Das sollten wir nutzen.

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