Früherer Menschenrechtsanwalt Neuer Labour-Chef Keir Starmer will Johnson die Stirn bieten

London · Es scheint, als hätten Keir Starmers Eltern hellseherische Kräfte besessen: Sie gaben ihrem Sohn den Vornahmen des Gründers und damaligen Chefs der britischen Labour-Partei, Keir Hardie. Dabei konnten sie kaum ahnen, dass ihr Sohn einmal in die Fußstapfen seines Namenspatrons treten würde.

Doch nun ist der frühere Staatsanwalt und Mitte-Politiker Keir Starmer zum neuen Chef der linken Traditionspartei gewählt worden.

Nach Stationen als Menschenrechtsanwalt und Chef der britischen Staatsanwaltschaft ist er nun als Partei- und Oppositionsführer am vorläufigen Höhepunkt seiner Karriere angekommen. Die große Frage ist, ob Starmer das schafft, woran sein Vorgänger Jeremy Corbyn scheiterte: Den konservativen Premierminister Boris Johnson in die Schranken zu weisen und Labour wieder in die Regierung zu führen.

In seiner Antrittsrede bezeichnete es Starmer als „die Ehre und das Privileg meines Lebens“, Labour künftig zu führen. Zwar habe die Partei „einen Berg“ zu erklimmen, räumte Starmer ein. Er sei aber zuversichtlich, dass es klappen werde.

Die Unterschiede zwischen dem 57-jährigen Starmer und dem 70-jährigen Corbyn könnten nicht größer sein. Letzterer übernahm 2015 als überzeugter Sozialist – und nach 30 Jahren als querschießender Hinterbänkler ohne nennenswerte Ämter – die Parteispitze. Corbyn elektrisierte die Jugend, geriet wegen seiner unklaren Haltung zum Brexit und antisemitischer Äußerungen aber stark in die Kritik. Starmer brach bei seiner Antrittsrede klar mit seinem Vorgänger und entschuldigte sich „im Namen von Labour“: Antisemitismus sei „ein Schandfleck auf unserer Partei“.

Starmer ist der Zeitung Guardian zufolge ein Mann „ohne Feinde“ und wirbt für Einheit, nicht für eine bestimmte Ideologie. Der Sohn einer Krankenschwester und eines Werkzeugmachers trat bereits als Jurastudent in die Partei ein. Nach seinem Abschluss in Oxford zog er nach London und arbeitete für eine damals revolutionäre Kanzlei von Menschenrechtsanwälten.

Zu seinen größten Erfolgen gehört der sogenannte „McLibel“-Fall, ein jahrelanger Rechtsstreit zwischen der Fastfood-Kette McDonalds und Umweltaktivisten, denen der Konzern Verleumdung vorwarf. Starmers Team gewann und Großbritannien erweiterte das Recht auf freie Meinungsäußerung.

2008 wurde Starmer von der damaligen Labour-Regierung zum Chef der Staatsanwaltschaft ernannt. In dieser Funktion traf er einige umstrittene Entscheidungen, beispielsweise als er bei zwei fragwürdigen Polizeieinsätzen mit toten Zivilisten keine Anklage gegen die Beamten erhob. Er musste später zusehen, wie die konservative Regierung ab 2010 das Justizsystem im Rahmen ihrer Sparpolitik beschnitt.

Nach dem Ende seiner Amtszeit 2013 wurde Starmer Politiker und zog 2015 für Corbyns Londoner Nachbarwahlkreis ins Parlament ein. Corbyn machte ihn zunächst zu seinem innenpolitischen Sprecher – ein Amt, von dem er sich im Folgejahr aus Protest gegen Corbyns Führungsstil zurückzog. Nur wenige Monate später kehrte er als Brexit-Sprecher der Partei aber wieder in die erste Reihe zurück.

Der Pro-Europäer gestaltete aktiv die Labour-Brexit-Politik mit. Er war ein entschiedener Verfechter eines zweiten Referendums. Mit dieser Forderung wollte die Parteiführung die in der Brexit-Frage gespaltenen Lager einen. Dies kam aber schlecht bei traditionellen Labour-Wählern in Nordengland an und trug mit zur Wahlniederlage bei, die Corbyn Ende vergangenen Jahres sein Amt als Parteichef kostete.

Starmer übernimmt das Ruder in stürmischen Zeiten: Wegen der Corona-Pandemie steht die Wirtschaft am Abgrund. Der neue Oppositionschef versprach, in der Krise konstruktiv mit der Regierung zusammenzuarbeiten. Außerdem müssen nach dem Brexit die künftigen Beziehungen zur EU noch ausverhandelt werden, es droht ein Desaster. Die Labour-Partei ist durch vier verlorene Wahlen in Folge extrem geschwächt.

In seinem Wahl-Manifest sagte Starmer: „Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen und den Mächtigen die Stirn zu bieten.“ Jetzt muss er dem konservativen Regierungschef Johnson die Stirn bieten – mit einer Kritik an dessen Corona-Politik fing Starmer am Sonntag mit einem Gastbeitrag in der Zeitung Sunday Times an: „Es sind schwere Fehler gemacht worden“, schrieb Starmer. Zu spät habe die konservative Regierung eingestanden, dass Großbritannien bei der Zahl der Tests hinter anderen Ländern hinterherhinke.

(AFP)
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