Einwanderung in die USA 6000 Dollar für die Hoffnung auf ein neues Leben

Roma · Tausende Migranten aus Lateinamerika überqueren täglich ohne Papiere die Grenze der USA. US-Präsident Biden hat die schärfsten Regeln seines Vorgängers zurückgenommen. Doch die Lage im Grenzgebiet zwischen Mexiko und Texas bleibt angespannt.

Der Abend ist lau, die Hitze des Tages vergessen, über den Fluss weht eine frische Brise. Im Wasser spiegeln sich die Lichter von der anderen Seite, Lampen einer Uferpromenade. Aus dem Garten eines Restaurants rieseln mexikanische Liebeslieder herüber, man hört Hundegebell, spielende Kinder. Höchstens 60 Meter ist der Rio Grande an dieser Stelle breit, eher ein seichtes Flüsschen als ein reißender Strom.

Zwischen Schilfbüscheln, auf übereinandergestapelten Sandsäcken, hockt ein Mann, der auf den ersten Blick an einen Angler denken lässt. Nur dass er eine gescheckte Uniform trägt und Soldat der Nationalgarde ist. Er wurde an den Rio Grande beordert, um die Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko zu überwachen und der Border Patrol, der überforderten Grenzpolizei, zur Seite zu stehen. Ein zweiter Gardist lehnt an einem Geländewagen. Keine 100 Meter dahinter das nächste Duo. Nach langem Warten, nachts gegen zwei, sind in der Ferne Paddelschläge zu hören. Dann weitere. Fährt man hinauf zu einer Aussichtsplattform auf den Klippen, auf denen die ältesten Villen der Stadt Roma thronen, sieht man im Mondlicht irgendwann dunkle Schatten, die aus einem Schlauchboot ans Ufer springen und im Gestrüpp verschwinden.

Der Sheriff erzählt von jungen Männern, die meist dann übersetzen, wenn sie glauben, dass die Müdigkeit den Grenzwachen die Aufmerksamkeit raubt. Ihr Ziel seien Häuser irgendwo in Roma, in denen sie unterkommen, bevor die Schleuser sie abholen, um sie ins texanische Hinterland zu bringen, nach San Antonio, Houston, Dallas. Eine Ware. In diesem Fall sind die Menschen gemeint, die tagelang in Quartieren hausen, die von den Schlepperbanden angemietet wurden. Bis zu 80 Menschen in einem Haus, so müsse man sich das vorstellen, sagt die Journalistin Dina Garcia-Pena.

Sie hat ein Wochenblatt gegründet, rein digital, El Tejano, zweisprachig, englisch und spanisch. Sie kennt die Statistik des anschwellenden Migrantenstroms. 178 622 illegal Eingewanderte hat die Border Patrol in diesem April an der Grenze festgenommen, drei Prozent mehr als im März. Die meisten dieser Menschen stammen aus Guatemala, Honduras, El Salvador und Nicaragua, einige auch aus Mexiko. Die Schlepper teilen sie in Gruppen ein. Die einen sind Llegadas. Llegada bedeutet Ankunft, Llegadas sollen sich verstecken, weil sie im Schnellverfahren über die Brücken nach Mexiko abgeschoben werden, wenn die Border Patrol sie erwischt. Die anderen, die Entregas, laufen direkt auf die Grenzpolizisten zu, froh über die Festnahme, das Ende ihrer Odyssee. Entrega heißt Lieferung. Entregas sind Familien mit Kindern, die unter dem Präsidenten Joe Biden in den USA bleiben dürfen, bis ein Gericht über ihren Asylantrag entscheidet. Donald Trump hatte Mütter und Väter an der Grenze von ihren Kindern getrennt, in der Hoffnung auf einen Abschreckungseffekt. Wer um Asyl bitten wollte, musste dies in Mexiko tun. Biden hat die schärfsten Regeln seines Vorgängers zurückgenommen.

In Roma ist es relativ leicht, den Rio Grande zu überqueren. In der Nähe der Klippen liegt eine Insel im Fluss, von dort sind es vielleicht zwanzig Meter zu dem einen wie dem anderen Ufer. Am amerikanischen kleben noch die Plastikbänder im lehmigen Schlamm, blassgrüne Bänder, die sich Migranten der Kategorie Entregas von den Handgelenken reißen, sobald sie wieder festen Boden unter den Füßen haben.

Auch Carmen kam im Boot über den Fluss. Die zierliche Frau stammt aus Nicaragua. Vier Wochen war sie unterwegs, mal in Bussen, mal zu Fuß, ehe sie den Rio Grande erreichte. An ihrer Seite Javier, der 16-jährige Sohn, ihr Ältester. Der Jüngere, Franklin, 14, blieb in der Obhut ihrer Eltern in Chinandega zurück. Ein in Miami lebender Neffe, erzählt Carmen, habe die Schleuser bezahlt. 6000 Dollar für sie, 6000 für Javier. Für Franklin habe das Geld nicht gereicht. „Ich werde ihn nachholen, sobald ich die Summe beisammen habe“, sagt seine Mutter. Aus Nicaragua, sagt sie, sei sie wegen des Präsidenten geflohen, wegen Daniel Ortega, der die Korruption derart wuchern lasse, dass sie für ihre Söhne in dem Land keine Perspektive mehr sehe. Ihr Mann, erzählt sie noch, sei an einer Lungenentzündung gestorben. Nach seinem Tod habe sie beschlossen, sich auf den Weg zu machen. Ihr Neffe, Koch in einem Lokal, werde ihr sicher zu einem Job verhelfen, vielleicht als Hilfskraft in seiner Küche. Auch Javier will sich sofort um Arbeit bemühen.

Sechs Tage haben die beiden in einem zum Auffanglager umfunktionierten Billighotel verbracht. Nachdem ihre Daten erfasst und sie negativ auf Corona getestet worden waren, ging es weiter in eine Notunterkunft, die eine kirchliche Hilfsorganisation namens Catholic Charities in der Grenzstadt McAllen betreibt. Der Neffe wurde verständigt, er buchte die Tickets für die Greyhound-Fernbusse, die Carmen und ihren Sohn nach Miami bringen. Als die beiden für ein Gespräch vor die Tür ihres Domizils treten, treffen dort gerade drei Männer ein. Ein Pfarrer und zwei Mitglieder seiner Gemeinde, die etwas vom Kochen verstehen. 450 Portionen, Hähnchen mit Reis und Bohnen, hätten sie heute zubereitet, erzählt Scott Tidwell, der Geistliche. Mittwochs reist das Trio an, aus der Nähe von Austin, fünf Stunden ist es auf der Autobahn unterwegs, samstags geht es zurück.

Hilda Garza De Shazo sitzt an einem Beratungstisch unter den Porträts von Abraham Lincoln und Ronald Reagan, den Säulenheiligen der Republikaner. Die Dame, einst Lehrerin und Schuldirektorin, heute Lokalchefin ihrer Partei in McAllen. Ihre Vorfahren, ausnahmslos alle, stammen aus Mexiko. Dennoch verteidigt sie Trumps harte Linie in der Einwanderungspolitik. „Biden hat die Schleusen geöffnet“, schimpft sie. Er habe das falsche Signal gesetzt, als er Eltern mit Kindern grünes Licht für den illegalen Grenzübertritt gab. Hätte Hilda Garza De Shazo in Washington etwas zu sagen, wüsste sie, was sie täte. „Mexiko und den Zentralamerikanern den Geldhahn abdrehen, sämtliche Hilfsgelder streichen, solange sie massenhaft Migranten durchlassen.“

Freddy Guerra glaubt, dass der Brechstangen-Ansatz das Problem nur noch verschlimmern würde. „Je prekärer die Lage, desto größer der Flüchtlingsstrom, das ist die Wahrheit.“ Guerras Büro liegt in der Altstadt von Roma. Guerra, der Verwaltungschef im Rathaus, hat gegen Trumps Mauerpläne geklagt. Die Bundesregierung beanspruchte Grundstücke am Fluss, die entweder der Stadt oder Privatleuten gehörten, um darauf einen neun Meter hohen Stahlzaun zu errichten. In solchen Fällen, das war Guerra von vornherein klar, gewinnt am Ende immer der Staat. Vor Gericht sind sie dennoch gezogen. Die Entwürfe für den Zaun lagen fertig in den Schubladen, die Aufträge waren vergeben: „Säße Trump heute noch im Oval Office, wären längst die Bagger am Werk.“ US-Präsident Biden legte die Pläne auf Eis. Allerdings, so Guerra, habe er bisher nicht gesagt, dass er definitiv auf den Mauerbau verzichte. Verfahren, in denen der Staat den Grundstückserwerb durchsetzen will, laufen weiter. „Alles hängt in der Schwebe“, fasst Guerra die Lage zusammen und erklärt, warum eine künstliche Barriere am Kern des Problems nichts ändern würde. Asylsuchende hätten nach der Flussüberquerung so oder so amerikanischen Boden erreicht.

Um zu zeigen, wie komplex die Realität ist, fährt Dina Garcia-Pena zu einem Landschaftspark am Fluss. Der Besitzer des Areals nimmt pro Person zwei Dollar Eintritt. „Das Hauptgeschäft beginnt wohl nach Sonnenuntergang, wenn hier keiner mehr Zutritt hat“, vermutet Garcia-Pena. Drogenkartelle steuerten das Idyll gezielt an und zahlten dafür einen Obolus, sicher mehr als nur ein paar Dollar. „Sie haben ihre Finger in jedem Teig. Lokalpolitiker lassen sich von ihnen schmieren, weil sie Geld für den Wahlkampf brauchen, wenn sie ein Wahlamt anstreben.“

Der Schmuggel ist ein grenzübergreifendes Geschäft, ein überaus lukratives. Zum komplizierten Befund gehört auch dies: Im November holte Trump im Starr County, dem Landkreis, in dem Roma liegt, 47 Prozent der Stimmen, nachdem er 2016 im Duell mit Hillary Clinton gerade mal auf 28 Prozent gekommen war. Und das, obwohl neun von zehn Bewohnern Latinos sind, deren Vorfahren aus dem Süden stammen. So wie Dina und Jorge, ihr vor 20 Jahren illegal eingewanderter Ehemann. Die Gründe für die Flucht verstehe sie nur zu gut, betont Dina Garcia-Pena. Aber manchmal kämen 400 Migranten in einer Gruppe. „Da fragen die Leute, Moment mal, hat das überhaupt noch jemand im Griff?“

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