Türkischer Reporter vor Gericht Wo die Verteidigung der Pressefreiheit zum Vergehen wird

Istanbul · Erol Önderoglu, Türkei-Repräsentant von Reporter ohne Grenzen, steht vor Gericht: Er muss mit einer Haftstrafe von bis zu siebeneinhalb Jahren rechnen.

 Die türkische Staatsanwaltschaft wirft dem Reporter Erol Önderoglu Verbreitung von „Terrorpropaganda“ vor.

Die türkische Staatsanwaltschaft wirft dem Reporter Erol Önderoglu Verbreitung von „Terrorpropaganda“ vor.

Foto: picture alliance / AA/dpa Picture-Alliance / Arif Hudaverdi Yaman

Seit mehr als 20 Jahren setzt sich Erol Önderoglu in der Türkei für die Pressefreiheit ein. Leicht war das noch nie. Er hat unzählige Strafprozesse gegen Journalisten-Kollegen begleitet, musste mit Drohanrufen leben und wurde auch schon einmal vorübergehend festgenommen. Doch selbst die Zeiten, als die türkischen Militärs noch Druck auf die Presse machten, waren nicht so schlimm wie die Zustände von heute. Als Türkei-Repräsentant der Organisation Reporter Ohne Grenzen (ROG) steht Önderoglu erstmals selbst vor Gericht und muss mit einer Haftstrafe von bis zu siebeneinhalb Jahren rechnen. An diesem Mittwoch wird das Urteil erwartet.

Der 50-Jährige sieht der Entscheidung illusionslos entgegen. Keine staatliche Institution sei in den vergangenen Jahren so beschädigt worden wie die Justiz, sagte Önderoglu unserer Zeitung in Istanbul. „Selbst in den 1990er Jahren war die Gefahr nicht so groß.“ Damalige Scherereien mit den Behörden waren nach seinen Worten „relativ milde im Vergleich mit dem feindseligen Klima heute“. Für Mittwoch rechnet der ROG-Vertreter mit einer Verurteilung und einem anschließenden Berufungsverfahren.

Zusammen mit der Menschenrechtlerin Sebnem Koru Financi und dem Intellektuellen Ahmet Nesin steht Önderoglu vor Gericht, weil er im Jahr 2016 an einer Solidaritätsaktion für die pro-kurdische – damals aber noch nicht verbotene – Tageszeitung „Özgür Gündem“ teilnahm. Die Staatsanwaltschaft wertet das Engagement als Verbreitung von „Terrorpropaganda“. Mehrere andere Aktivisten, die ebenfalls für „Özgür Gündem“ eintraten, sind bereits zu Haftstrafen verurteilt worden. Die Zeitung wurde kurz nach dem Putschversuch von 2016 zusammen mit mehr als hundert weiteren Medieneinrichtungen geschlossen.

Auf der ROG-Skala der Pressefreiheit rangiert die Türkei auf Platz 157 von 180 erfassten Ländern. Besonders seit dem Putschversuch gehen die Behörden rigoros gegen unliebsame Berichterstatter vor. Regierung und Justiz argumentieren, dass der Staat vor neuen Bedrohungen geschützt werden müsse. Dazu zählen die Behörden auch Journalisten. Erst neulich erklärte Präsident Recep Tayyip Erdogan, wer „Stift und Kamera in den Dienst einer Terrororganisation stellt“, sei für ihn kein Journalist.

Wie bei Önderoglu genügt den Behörden die Unterstützung einer pro-kurdischen Zeitung als Terror-Beweis: Der Terror-Begriff wird so breit ausgelegt, dass Meinungsäußerungen auch dann als terroristische Straftat verfolgt werden können, wenn sie keinen Gewaltaufruf enthalten. Laut einer Zählung der türkischen Journalisten-Gewerkschaft TGC sitzen derzeit 155 Medienmitarbeiter im Gefängnis.

In jüngster Zeit haben mehrere Entscheidungen hoher Gerichte die Hoffnung genährt, dass sich die Lage verbessern könnte. So hob der Berufungsgerichtshof kürzlich lebenslange Haftstrafen gegen zwei prominente Journalisten auf. Önderoglu will jedoch noch nicht von einem neuen Trend sprechen. Die betroffenen Kollegen säßen schließlich schon seit rund drei Jahren hinter Gittern. „Späte Gerechtigkeit ist keine“, zitierte der ROG-Vertreter einen bekannten türkischen Spruch. „Die Journalisten zahlen die Zeche, und die Korrektur kommt erst, wenn der Schaden längst angerichtet ist.“

Eine Rückkehr zu den EU-Reformen des vergangenen Jahrzehnts, mit denen die Meinungsfreiheit gestärkt wurde, erwartet Önderoglu nicht. Auch für ihn selbst könnte sich die Lage in absehbarer Zeit noch zuspitzen. Im November beginnt ein weiterer Strafprozess, bei dem ihm ebenfalls Terror-Propaganda vorgeworfen wird.

In dem neuen Verfahren legt ihm die Staatsanwaltschaft zur Last, dass er öffentlich für das Recht von mehreren hundert Akademikern eintrat, die Kurdenpolitik der Regierung in einem gemeinsamen Appell zu kritisieren. Etliche der Akademiker stehen deshalb vor Gericht – und jetzt werden auch Aktivisten wie Önderoglu verfolgt, die den Aufruf als legitime Meinungsäußerung verteidigt haben. Önderoglus Bilanz ist bitter: Die Justiz im EU-Bewerberland Türkei sei zu einem „extrem repressiven Werkzeug geworden“.

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