Erneute Massenproteste in Belarus Dem großen Traum von der Freiheit ganz nah

Minsk · Erneut gab es Massenproteste in Belarus gegen Präsident Alexander Lukaschenko. Die Staatsmacht droht mit dem Einsatz der Armee.

 Eine Frau schwenkt in Minsk eine historische Nationalflagge von Belarus, während tausende Demonstranten sich am Sonntag auf dem Platz der Unabhängigkeit zum Protest gegen Präsident Alexander Lukaschenko versammelten.

Eine Frau schwenkt in Minsk eine historische Nationalflagge von Belarus, während tausende Demonstranten sich am Sonntag auf dem Platz der Unabhängigkeit zum Protest gegen Präsident Alexander Lukaschenko versammelten.

Foto: dpa/Evgeniy Maloletka

Swetlana Tichanowskaja harrt im Exil aus. Handeln kann sie dort kaum. Nur reden. Also hat die belarussische Oppositionsführerin an diesem Wochenende in möglichst viele Mikrofone gesprochen. „Wir sind unserem Traum von der Freiheit ganz nah“, sagte sie im litauischen Vilnius und bat ihre Landsleute in der Heimat, nicht nachzulassen im Kampf gegen Diktator Alexander Lukaschenko: „Wir müssen jetzt weiterkämpfen für das Recht.“ Und die Menschen kämpfen weiter. Am Sonntag versammelten sich Zehntausende in allen größeren Städten des Landes zu „Märschen des neuen Belarus“. Allein in der Hauptstadt Minsk kamen wieder mindestens Hunderttausend Lukaschenko-Gegner zusammen und riefen dem seit 26 Jahren regierenden Alleinherrscher zu: „Verzieh dich!“

Die Opposition selbst spricht sogar von einer Viertelmillion Protestierenden in Minsk. Doch die Bilder aus Brest im Westen des Landes oder Gomel im Osten waren kaum weniger beeindruckend. Oder aus Grodno, im Dreiländerdreieck mit Polen und Litauen. Über den Köpfen wehte die weiß-rot-weiße Fahne des unabhängigen Belarus, die Lukaschenko durch sowjetnostalgische Farben ersetzen ließ. „Geh in Rente“, stand auf Plakaten, die sich an den 65-jährigen Präsidenten richten.

Zu offener Gewalt griff die Sonderpolizei Omon am Sonntag aber zunächst nicht. Dabei wissen alle im Land, dass die Tage der Entscheidung nahen. „Die Demokratiebewegung muss weiter wachsen, oder sie läuft sich tot“, urteilt der bekannte belarussische Publizist Andrzej Poczobut. Das scheint auch Lukaschenko so zu sehen. „Ab Montag muss die Macht wieder mächtig sein“, kündigt er an. Das klingt nach einer letzten Gnadenfrist für die Opposition, bevor im schlimmsten Fall Panzer durch das Land rollen. Der Präsident versetzte am Wochenende die Streitkräfte in volle Gefechtsbereitschaft. Er begründete das mit einer Bedrohung von außen durch Nato-Truppen in Polen und Litauen. Das nennen nicht nur westliche Regierungen „vollkommen haltlos“. Es gibt keine Hinweise auf offensive Truppenbewegungen in der Region. Selbst die Führung in Moskau, die den Westen vor einer Einmischung in Belarus gewarnt hat, schließt sich Lukaschenkos Warnungen vor einer Nato-Invasion nicht an. Der russische Präsident Wladimir Putin fordert sogar ausdrücklich einen Dialog in Belarus.

Dazu scheint der Machthaber in Minsk nicht bereit. Demonstrativ trägt Lukaschenko bei einem Truppenbesuch in Grodno eine Tarnfleck-Uniform. Verteidigungsminister Wiktor Chrenin warnt die Bevölkerung: „Sollte es zu weiteren Störungen der öffentlichen Ordnung kommen, werden die Protestierenden es nicht mehr mit der Polizei zu tun bekommen, sondern mit der Armee.“ Oppositionsvertreter sprechen bereits von Vorbereitungen zur Errichtung einer Militärdiktatur. Viele Beobachter gehen deshalb davon aus, dass die Entscheidung über das Wohl und Wehe der Demokratiebewegung in den staatlichen Betrieben fallen dürfte.

Gelingt es der Opposition in der neuen Woche, Arbeitsniederlegungen im großen Stil zu organisieren, könnte es doch eng werden für Lukaschenko. Das ist dem Langzeitpräsidenten offenbar klar. Die jüngsten Streik-Aufrufe der Opposition kontert er am Wochenende mit der Drohung, staatliche Betriebe bei Arbeitsniederlegungen zu schließen und alle Beteiligten zu entlassen.

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