Ostbelgien Wo Bürger ihre Gesetze selbst machen

Brüssel · Seit knapp zwei Jahren läuft in Ostbelgien ein demokratisches Experiment. Es ist ein weltweit einzigartiger Demokratie-Versuch.

 Das  Parlament der deutschsprachigen Gemeinschaft Ostbelgien. Der ständige Bürgerrat besteht aus ausgelosten Mitgliedern und trifft sich regelmäßig im Parlament. Bei den Treffen werden Gesetzesvorschläge ausgearbeitet, mit denen sich das „echte“ Parlament später auseinandersetzen muss.

Das Parlament der deutschsprachigen Gemeinschaft Ostbelgien. Der ständige Bürgerrat besteht aus ausgelosten Mitgliedern und trifft sich regelmäßig im Parlament. Bei den Treffen werden Gesetzesvorschläge ausgearbeitet, mit denen sich das „echte“ Parlament später auseinandersetzen muss.

Foto: dpa/Juliane Görsch

Es ist das vielleicht ungewöhnlichste Experiment in einer modernen Demokratie. Und es begann vor zwei Jahren mit einem Brief. „Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger, das Parlament der deutschsprachigen Gemeinschaft hat Sie ausgelost.“ Hand aufs Herz – hätten Sie weitergelesen? Über 740 der angeschriebene Ostbelgier legten das Schreiben weg, 142 sagten ab, aber immerhin 115 waren bereit. „Es ging uns nicht um ein weltweit einzigartiges Modell“, sagt Oliver Paasch heute. Der 49-Jährige ist Politiker, genauer gesagt Ministerpräsident von 77 500 Einwohnern Ostbelgiens, jener Deutschsprachigen Gemeinschaft DG, die an der Grenze zu Aachen liegt. Wie die wallonischen und flämischen Landesteile gibt es auch in der Hauptstadt Eupen ein Parlament: Sechs Parteien sind dort vertreten, die zusammen 25 Abgeordnete stellen. Ein ideales „Labor“ also, um eines der vielleicht aufregendsten Experimente zur Rettung der Demokratie zu starten. Paaschs Partei heißt ProDG, eine freie Bürgerliste. An seiner Seite stand der damalige Parlamentspräsident Alexander Miesen. Beide trieb der gleiche Gedanke um: Wie kann man die Politikverdrossenheit bekämpfen? Und wie kann man das verlorene Vertrauen zwischen „den Politikern da oben“ und den Bürgern wieder aufbauen?

Im September 2019 standen dann eine Laborantin, eine Biologin, ein ehemaliger Polizeibeamter, ein Angestellter bei einer Bau-Firma, eine Rechtsanwältin, eine Lehrerin, Studierende, eine Hausfrau und ein Postbeamter zu einem Gruppenfoto zusammen – der erste Bürgerrat. Dabei war auch der damals 70-jährige Gerard Duyckaerts, ein ehemaliger Lkw-Fahrer. Sein Heimatland Belgien machte politisch kaum überzeugende Schlagzeilen. Einmal brauchten die Parteien über 540 Tage, um eine Regierung zu bilden. Es gab Affären wegen Postenschiebereien und veruntreuten Geldern. Duyckaerts war frustriert, wählte extreme Parteien, erzählte er vor zwei Jahren. Als er den Brief erhielt, legte er ihn erst einmal weg und holte ihn nach dem Gespräch mit einem Bekannten wieder hervor: „Immer nur motzen, das ist nicht gut“, habe er sich gedacht. „Gehste mal gucken, was da passiert“, erzählte er dem  Spiegel. „Es wird so viel geschimpft“, gab auch eine andere Teilnehmerin zu. „Aber hier kann man als normaler Mensch etwas bewegen.“ Es „passierte“ die erste Sitzung des neu gegründeten Bürgerrates, ein Gremium mit 25 ausgelosten Bürgerinnen und Bürgern, die pro Treffen ein Sitzungsgeld von 64 Euro bekamen. Ihr erstes Thema war die Pflege. „Natürlich gab es am Anfang auch Skepsis, ob Bürgerinnen und Bürger ohne politische Ausbildung und ohne sich monatelang mit einem Thema intensiv zu befassen, zu vernünftigen Empfehlungen kommen können“, erzählt Paasch. „Heute wissen wir: Die Arbeit ist so gut, es gab keine Versuche, individuelle Interessen in den Vordergrund zu stellen.“

Um den Bürgerrat attraktiv zu machen, ließ man sich einiges einfallen. Ein entscheidender Punkt: Die gewählten Volksvertreter im Parlament können die Vorschläge der Bürgerräte nicht einfach ablehnen. Dazu wäre eine ausführliche und gute Begründung notwendig. Das garantiert, so hört man von vielen Stellen in Eupen, die Sicherheit, dass die Bürger-Gremien eben keine Alibi-Veranstaltungen sind. „Mich hat sehr beeindruckt, wie selbstbewusst die Mitglieder in den ersten Sitzungen die Experten befragt haben und dann gegenüber dem Parlament aufgetreten sind“, sagt Paasch. Denn: „Die Mitglieder des Bürgerrates haben gelernt, wie komplex Politik sein kann und dass Extremisten mit ihren einfachen Antworten auf schwere Fragestellungen nicht recht haben können, weil das Leben komplizierter ist, als es die Populisten den Menschen vorgaukeln.“

Was das ostbelgische Modell von den anderen Versuchen unterscheidet, ist die Tatsache, dass es auf Dauer angelegt ist. Eine Bürgerversammlung mit 25 bis 50 Bürgern kommt punktuell zusammen, diskutiert Themen und gibt Empfehlungen an die Politik. Der Bürgerrat überwacht die Bürgerversammlung, er tagt einmal im Monat, ein Mandat dauert 18 Monate. Die 24 Mitglieder, die zuvor an der Bürgerversammlung teilgenommen haben, sind für die Umsetzung der Empfehlungen und den Dialog mit dem Parlament und der Regierung zuständig. Anders als bei vielen Versuchen in anderen Teilen Europas bleibt die Institution also erhalten und widmet sich dann einem neuen Thema – derzeit dreht sich alles um Inklusion. Auslöser des Experimentes aber war das kleine Büchlein „Gegen Wahlen“ von David Van Reybrouck, erschienen 2013. Der Forscher stellt die bisherige Praxis mit Wahlen und Referenden infrage und plädiert dafür, gewählte Politiker durch Laien zu ersetzen – oder eben durch zufällig ausgeloste Bürger. Sein zentraler Gedanke: „Wenn einfache Bürger die Befugnis, Zeit und Information bekommen, schwierige Fragen anzugehen, wachsen sie über Gegensätzlichkeit hinaus und liefern sinnvolle Antworten.“

Zuvor gab es Anläufe in Irland. Bürgerbeteiligung ist in der Schweiz verankert, die Diskussion um andere Formen partizipativer Demokratie wird in Deutschland ebenso geführt – vor allem durch die Initiative „Mehr Demokratie“.  Zwar gibt es in vielen Bereichen Volksentscheide, Bürgerbegehren und Abstimmungen. Doch viele kranken daran, dass es sich nur „um Ja- oder Nein-Fragen“ dreht, meint der Politologe und Demokratieforscher Wolfgang Merkel vom Wissenschaftszentrum Berlin. 

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