Ethnische Konflikte, Naturkatastrophen und Corona Äthiopien – Land der vielen Krisen
Addis Abeba · Im Land am Horn von Afrika häufen sich die Hiobsbotschaften. Ethnische Konflikte sorgen für viele Tote, es gibt Naturkatastrophen und nun auch noch die Corona-Krise.
Gewalttätige ethnische Konflikte mit fast 200 Toten und 9000 Verhaftungen; eine nicht abreißende Kontroverse mit Ägypten wegen des äthiopischen Nil-Staudamm-Projekts; dazu die anhaltende Heuschreckenplage mit erheblichen Ernteausfällen im Osten und Süden des Landes und nicht zuletzt die Corona-Pandemie mit ihren gravierenden gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen: Das ostafrikanische Äthiopien steht gerade vor derart vielen schwerwiegenden Problemen, dass man kaum weiß, welches man zuerst auffächern soll.
Als Ende Juni in einem Vorort von Addis Abeba der populäre politische Sänger Hacalu Hundessa ermordet wurde, der in seinen Liedern für die Belange der sich bis heute politisch unterrepräsentiert fühlenden Oromo eintrat – der größten der rund 80 äthiopischen Volksgruppen – kam es zu tagelangen Protesten und gewaltsamen Übergriffen, die von manchen politischen Beobachtern als Genozid bezeichnet werden. Opfer waren überwiegend im Oromogebiet lebende Amharen, die zweitgrößte Ethnie im 115 Millionen Einwohner zählenden Äthiopien.
Offiziell nicht bestätigten Meldungen zufolge enthauptete man sie, schlug ihnen mit Macheten Arme und Beine ab, steinigte sie oder ließ sie in ihren angezündeten Häusern verbrennen. Unklar ist, weshalb meist Amharen zum Ziel der Rache des aus militanten Jugendlichen rekrutierten oromischen Mobs wurden. Angestachelt wurden die Täter mutmaßlich von dem politischen Aktivisten und Medienunternehmer Jawar Mohammed, dem größten Widersacher von Ministerpräsident und Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed. Jawar ist inzwischen in Haft, was den Unmut der Oromos, die in ihm ihren politischen Anführer sehen, nur weiter schürt.
Jawar spielte eine zentrale Rolle bei den 2016 zum Rücktritt der damaligen Regierung führenden Protesten, in deren Folge Abiy an die Macht kam. Kurz darauf kehrte Jawar, der die amerikanische Staatsbürgerschaft besitzt, zurück und machte sich erneut zum Sprachrohr der Oromo. Umso kurioser ist, dass er bei einer ersten Haftanhörung kundtat, er selbst sei Amhare. Will er sich von den Gewaltexzessen reinwaschen?
Regierungschef Abiy deutete die Unruhen im Oromogebiet als Versuch, seine Regierung zu destabilisieren und die Einheit Äthiopiens offen infragezustellen. Seit 1991 das kommunistische Derg-Regime abdankte, ist Äthiopien eine ethnische Föderation, die den größten Volksgruppen eine weitgehende Autonomie einräumt. Die Folge davon: Immer wieder werden auf rassistische Weise homogene Stammesgebiete propagiert und die jeweiligen Minderheiten vertrieben. Dies erklärt, dass Äthiopien ungefähr eine Million Binnenflüchtlinge zählt, vertrieben aus ethnischen Gründen.
Wie konfliktträchtig diese ethnische Föderation ist, zeigt sich in einem anderen aktuellen Konflikt. Die Tigray, die nur sechs Prozent der Bevölkerung stellen, jedoch von 1991 bis zur Inthronisierung Abiys alle Schlüsselpositionen im Land einnahmen, legen sich seit Monaten mit der Zentralregierung an. Sie möchten die ursprünglich für Ende August angesetzten, aufgrund der Corona-Pandemie auf unbestimmte Zeit verschobenen, Parlamentswahlen am 9. September in ihrem Gebiet durchführen. Und brüskieren damit die Regierung in Addis Abeba. Zumal klar ist, dass diese dort eine krachende Niederlage erfahren wird, da die Tigray seit 2018 auf allen Ebenen entmachtet wurden. Ebenso klar ist, wer gewinnen wird: die regierende Tigray People’s Liberation Front (TPLF).
Abiy, der die Zukunft des Landes einzig und allein in einer Überwindung der immer mehr um sich greifenden ethnischen Seperation sieht, hat 2019 mit der Prosperity Party (PP) eine neue Partei aufs Schild gehoben, die sich unter dem Slogan „Ethiopia first“ die Einheit des Landes auf ihre Fahnen schreibt. Von den einflussreichsten Volksgruppen lehnten diese nur die Tigray ab.
Abiys Regierung verliert im Land spürbar an politischem Rückhalt. Nicht zuletzt aufgrund der jüngsten Massenverhaftungen, im Zuge derer auch führende Oppositionelle in Gewahrsam kamen, sowie der um sich greifenden Gewalt von Polizei und Militär. In mehreren Städten kam es im Juli und August zu gewaltsamen Zusammenstößen mit Protestierenden, in deren Folge einzelne Demonstranten erschossen wurden.
Von Seiten der International Crisis Group – einer Nichtregierungsorganisation, die im Auftrag westlicher Regierungen in Krisengebieten berät – wurde jüngst Südafrikas Präsident Cyril Ramophasa als Vermittler zwischen Zentral- und Tigray-Regierung ins Spiel gebracht. Ein Angebot, das ignoriert wurde. Keine Seite will ihr Gesicht verlieren: Die Tigray argumentieren, dass die Regierung Abiy verfassungsrechtlich seit September nicht mehr legitimiert sei und pochen auf ihr Recht, aus Respekt vor eben dieser Verfassung Regionalwahlen durchzuführen. Abiy sieht dadurch die Autorität des Staates – und seine eigene – untergraben.
Dass der Regierungschef in Bedrängnis ist, zeigt seine jüngste Regierungsumbildung, bei der mehrere Minister – darunter Verteidigungsminister Lemma Megersa – ausgetauscht wurden. Sollte Abiy den Rückhalt im Militär verlieren, dürften nicht nur seine Tage gezählt sein, sondern könnte sein Land in einen Bürgerkrieg abgleiten.
Derzeit geht es der Regierung – darauf weisen die Verhaftungen Oppositioneller, das unlängst für 23 Tage abgeschaltete Internet und die Polizeigewalt gegenüber Demonstranten hin – offenbar darum, mit allen Mitteln für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Umso willkommener ist da ein außenpolitischer Konflikt, der die Reihen im eigenen Land schließen soll: der Disput mit Ägypten und Sudan um den äthiopischen Nil-Staudamm.
Seit Abiys Regierung im August mit der Füllung des Mega-Staudamms begonnen hat, wird insbesondere die ägyptische Regierung unter deren Diktator Abd al-Fattah as-Sisi nicht müde, vor angeblich verheerenden Folgen für Ägyptens Wasserversorgung zu warnen. Tatsächlich blieb die Teilfüllung folgenlos. Äthiopien wie Ägypten spielen in dem Konflikt die nationalistische Karte aus, um von hausgemachten Problemen abzulenken. Der Nil-Staudamm ist für Äthiopien ein Prestigeprojekt ohnegleichen. Ohne ausländische Subventionen gebaut, wird der 2011 begonnene und 2022 fertiggestellte Grand Ethiopian Renaissance Damm (GERD) nicht nur der größte Staudamm Afrikas sein, sondern auch ein beträchtlicher Devisenbringer. Der dort erzeugte Strom soll nicht nur fast ganz Äthiopien mit Elektrizität versorgen, sondern auch an Anrainerstaaten verkauft werden.
Seit Jahren beteiligen sich Millionen Äthiopier an der Finanzierung des Projekts, das längst zum Inbegriff nationalen Stolzes wurde. Regierungsangestellte verzichten auf bis zu zehn Prozent ihres Gehaltes. Außerdem kann jeder Äthiopier über sein Mobiltelefon in beliebiger Höhe spenden. So sehr das Land bei dem GERD-Projekt unbeirrt an einem Strang zieht, fehlt es ansonsten auf alarmierende Weise an Einigkeit.
Zumal nun auch noch die Corona-Pandemie mit mittlerweile über 50 000 Infizierten die sozialen Gräben in dem Land am Horn von Afrika vertieft. Viele Familien sind durch die infolge der Pandemie lahmende Wirtschaft gebeutelt. Das Center for Strategical and International Studies (CSIS), ein amerikanischer Think Tank, erwartet, dass die Zahl der Armen – statistisch betrachtet Menschen, die pro Tag weniger als 1,90 Dollar zur Verfügung haben – bis nächstes Jahr in Äthiopien um fünf Millionen auf 31 Millionen ansteigen wird. Die Landeswährung hat binnen eines Jahres gut 15 Prozent an Wert eingebüßt, die Inflationsrate liegt derzeit bei 16 Prozent. Grundnahrungsmittel verteuern sich, Einkommen sinken: Immer mehr Äthiopier geraten in eine Abwärtsspirale.
Als sei das alles nicht genug, wurden bis zu einer Million Ostäthiopier durch extreme Regenfälle im Sommer offenbar obdachlos. Überdies sorgt die seit Februar in Äthiopien und angrenzenden Ländern wütende Heuschreckenplage biblischen Ausmaßes für Ernteausfälle. Bis zu 25 Millionen Ostafrikaner könnten schlimmstenfalls Hunger leiden.
„Was man erhofft, ist besser, als was man findet“, lautet ein äthiopisches Sprichwort. Angesichts all der Sorgen stirbt die Hoffnung in der Bevölkerung zuletzt. Die Religion bleibt ihr Fixstern. Im Juli musste die Regierung, die wegen Corona Kirchenbesuche untersagt hatte, nach Protesten nachgeben. Ansteckung hin oder her: Ihr gelebter Glaube ist für die Äthiopier in Zeiten der Krise das wichtigste Menschenrecht und gewissermaßen die erste Bürgerpflicht.