Massenarbeitslosigkeit durch Corona-Krise Millionen US-Amerikanern droht Armut

Washington/New York · Auf bis zu 23 Prozent könnte wegen Corona die Arbeitslosenquote in den Vereinigten Staaten ansteigen, warnt die Zentralbank. Dabei haben viele Bürger kaum finanzielle Rücklagen.

Da es in den USA so gut wie keinen Kündigungsschutz gibt, drohen Millionen Menschen in der Corona-Krise Arbeitslosigkeit und sozialer Abstieg bis hin zur Obdachlosigkeit. Auch das Billionen-Hilfspaket der Regierung wird von Experten als völlig unzureichend angesehen.

Da es in den USA so gut wie keinen Kündigungsschutz gibt, drohen Millionen Menschen in der Corona-Krise Arbeitslosigkeit und sozialer Abstieg bis hin zur Obdachlosigkeit. Auch das Billionen-Hilfspaket der Regierung wird von Experten als völlig unzureichend angesehen.

Foto: AP/Michael Dwyer

Es war die Verzweiflung über seinen Jobverlust angesichts der Coronavirus-Krise, die den 38-jährigen Roderick Bliss in einer Kleinstadt nahe Philadelphia zu einer Bluttat trieb. Vergangene Woche schoss Bliss seiner Lebensgefährtin viermal in den Rücken, nachdem er ihr gesagt hatte: „Ich muss dies tun, ich bin mit Gott im Reinen.“ Danach richtete sich der Schütze selbst. Die Frau überlebte die Verzweiflungstat, die nach Ansicht der Behörden nur ein Beispiel von vielen für die dramatischen Alltagsauswirkungen der Pandemie ist.

Allein in den vergangenen zwei Wochen beantragten zehn Millionen US-Bürger Arbeitslosenhilfe, und Wirtschaftsexperten sehen eine tiefe Rezession als unvermeidbar an. Gleichzeitig breitet sich die Infektionswelle weiter aus: Bis gestern verzeichneten die Statistiken über 300 000 positiv getestete Menschen, mehr als 8300 Bürger verloren bisher durch das Virus ihr Leben. Und Präsident Donald Trump, der jetzt das Militär für Hilfen mobilisieren will, warnte am Samstag: Es werde in den nächsten zwei Wochen „noch viele Tote geben“.

Schon jetzt wird von Experten das kürzlich in Windeseile vom Kongress und Trump verabschiedete gigantische Hilfspaket von 2,2 Billionen US-Dollar für völlig unzureichend angesehen. Jeder Bürger, der 2019 oder dieses Jahr eine Steuererklärung abgab und nicht mehr als 75 000 Dollar brutto verdiente, soll demnächst einmalig 1200 Dollar bekommen, für jedes Kind gibt es noch einmal 500 Dollar extra.

Doch für Nathalie Prieur aus Dallas und Millionen andere Menschen ist dies nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Sie sei bereits mit der Miete und dem Autodarlehen in Rückstand, sagt die 42-jährige Frau, die kürzlich ihren Teilzeitjob verlor. Für sie geht es nun ums nackte Überleben und darum, nicht auf der Straße zu enden. Ein Freund habe ihr kürzlich ausgeholfen, damit sie überhaupt Lebensmittel bestellen konnte, denn das Risiko eines Besuchs im Supermarkt kann sie wegen einer Immunschwäche-Krankheit nicht eingehen. „Der Kühlschrank ist so gut wie leer“, sagt sie. Auch bei den „Food banks“ – den örtlichen Hilfsstellen, wo sozial Schwache kostenlos Konserven, Reis, Spaghetti oder Getränke und Babynahrung erhalten können – sind die Regale derzeit meist leer. Und wer Unterstützung beantragen will, sieht sich quer durch die USA mit überlasteten und gestörten Webseiten der Ämter und Telefonen konfrontiert, bei denen trotz tagelanger Anwahlversuche niemand abhebt.

Ein Teil der tief in die Krise geratenen Unternehmen hat unterdessen die Entlassung der nicht mehr benötigten Mitarbeiter vereinfacht. So erhielten jetzt rund 1000 Angestellte einer Restaurantkette aus der Stadt San Antonio in Texas ihre sofortige Kündigung durch eine simple bedruckte Postkarte ins Haus geschickt. Lediglich Sozialleistungen sollen noch vier Wochen weitergezahlt werden, dann seien die Köche, Manager und Bedienungen auf sich selbst gestellt, heißt es auf der Karte.

Nur wenige zeigen sich in den USA, wo es so gut wie kein Kündigungsschutzrecht gibt, so kulant wie der Immobilien-Investor Mario Salerno aus dem New Yorker Stadtteil Brooklyn. Er erließ allen 80 Mietern in seinen Objekten jetzt die gesamte April-Miete und hatte nur eine Bitte: „Helft den Nachbarn und wascht euch die Hände!“ Doch wie es im Mai weitergehen soll, weiß auch Salerno – der Hypotheken zu bedienen hat – nicht. Denn wer keinen Job mehr hat, kann auch nicht mehr lange Miete zahlen, die im sündhaft teuren „Big Apple“, dem Virus-Krisenzentrum, für ein Einzimmer-Apartment oft um 1500 Dollar pro Monat liegt. Nur wenige Unternehmen wie beispielsweise Online-Gigant Amazon stellen derzeit noch ein.

Eine Umfrage unter 7000 Mietern in New York Ende März ergab jetzt, dass 54 Prozent von ihnen angaben, ihren Arbeitsplatz in den letzten Wochen verloren zu haben. Die meisten haben vor, die Miete nicht mehr zu zahlen. Hinzu kommt, dass in den USA ein Drittel der Bürger so gut wie keine Rücklagen für Notfälle hat und von einem Lohntag zum anderen lebt. Das Coronavirus hat nun diese Schattenseite der amerikanischen Gesellschaft und den Mangel an sozialer Absicherung schonungslos bloßgestellt.

Die Arbeitslosenquote, die im Februar noch mit 3,5 Prozent auf dem tiefsten Stand seit 50 Jahren lag, könnte nun – so fürchtete es kürzlich Finanzminister Steven Mnuchin – auf bis zu 23 Prozent ansteigen. Eine Zentralbank-Studie geht sogar von 47 Millionen verlorenen Jobs und einer Arbeitslosenrate von 32 Prozent aus. Einige Unternehmen versuchen deshalb mit Improvisation und wachsender Verzweiflung, über die Runden zu kommen.

Im mit Michelin-Sternen dekorierten New Yorker Gourmet-Restaurant „Eleven Madison Park“, das vor kurzem wie alle Gaststätten der Stadt schließen musste, brutzeln mittlerweile wieder die Pfannen. Die stark verringerte Belegschaft kocht täglich nun mit einer Sondergenehmigung rund 2000 Mahlzeiten für Krankenhausmitarbeiter und Bedürftige, finanziert von einigen Großkonzernen und einer Spendensammlung.

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