Wahl zur Verfassungsversammlung Chilenen strafen Regierung und Ultrarechte ab

Santiago · Bei der Wahl zur Verfassungsversammlung gewinnen Unabhängige und Mitte-Links-Politiker im südamerikanischen Andenstaat klar.

Die neue chilenische Verfassung wird vor allem von Vertretern der Zivilgesellschaft und Mitte-links-Politikern geschrieben werden. Bei der Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung wurden die Regierungspartei von Präsident Sebastián Piñera und die ultrarechten Parteien am Sonntag abgestraft. Nach Auszählung von knapp 80 Prozent der Stimmen entfallen auf die beiden Listen „Lista Apruebo” und „Apruebo Dignidad”, die Zentrumsparteien bis zu den Kommunisten umfassen, gut ein Drittel der Voten. Die Rechtsparteien im Bündnis „Vamos por Chile” kamen auf weniger als ein Viertel der Stimmen und verfehlen das wichtige Quorum von einem Drittel in der künftigen Verfassungsversammlung. Die unabhängigen Listen, auf denen unter anderem Musiker oder Schauspieler, Akademiker, Anwälte und Uniprofessoren oder LGBTQ-Vertreterinnen kandidierten, erreichten rund 40 Prozent der Stimmen. Demnach bekämen die Unabhängigen rund ein Drittel der 155 Sitze in der „Constituyente“, 17 Sitze sind fest an Vertreter der Ureinwohner vergeben. Das Gremium soll bereits im Juni mit der Ausarbeitung des neuen demokratischen Grundgesetzes beginnen. Denn schon in einem Jahr soll es fertig und zur Abstimmung bereit sein. Ein sehr ambitioniertes Ziel, denn die Verfassungsmütter und -väter fangen praktisch bei null an.

Es müssen mindestens zwei Drittel für die Annahme des Grundgesetzes stimmen. Kompliziert wird der Prozess dadurch, dass kommenden November noch ein neuer Präsident und ein neues Parlament gewählt werden, die bei Amtsantritt im März 2022 noch nicht wissen können, auf welcher verfassungsrechtlichen Basis sie künftig amtieren werden.

 Die neue Verfassung soll die aus dem Jahre 1980 ersetzen, die in Zeiten der Diktatur entstand und ein neoliberales und ultra-kapitalistisches System implementiert hat. Für die Menschen steht dieses alte Grundgesetz für all das, was sie ablehnen und wogegen sie im Herbst 2019 monatelang auf die Straßen gegangen sind: ein auf Gewinn ausgerichtetes Gesundheits-und Bildungssystem, totale Freiheit für Unternehmen, überteuerte Dienstleistungen, Privilegien für die Streitkräfte und den fast kompletten Rückzug des Staates als Ordnungsfaktor. „Die Bürger haben der Regierung eine klare und starke Botschaft mitgegeben“, sagte Staatschef Piñera am Sonntagabend, nachdem die ersten Ergebnisse bekannt wurden. „Wir haben die Forderungen und Wünsche der Menschen nicht angemessen berücksichtigt“.

 Das Ergebnis überrascht nicht, denn die politische Klasse ist in Chile vollständig diskreditiert. Und die Proteste von Ende 2019 wurden vor allem von der Zivilgesellschaft und der Jugend getragen. Dass die „Constituyente“ nicht in erster Linie von Abgeordneten und Parteipolitikern gebildet wird, war eine der zentralen Forderungen bei dem Referendum im Oktober, bei dem sich knapp 80 Prozent der Bevölkerung für eine neue Verfassung aussprachen. „Die Ablehnung der politischen Klasse ist so tiefsitzend, dass das vor allem für die jungen Chilenen unabdingbar ist“, sagt Cecilia Quidel, eine Lehrerin aus einem Vorort von Santiago. „Je unbekannter die Kandidaten sind, desto größer sind ihre Chancen, gewählt zu werden“, betont Quidel im Gespräch.

„Das politische System setzt sich gerade neu zusammen“, bestätigt auch die Politologin Mireya Dávila von der Universidad de Chile. „Die Unabhängigen schnitten noch besser ab als erwartet, was bestätigt, wie sehr die Chilenen die traditionellen Parteien satt sind.“

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