Polit-Chaos in Großbritannien Johnsons Goldene Ära ist erstmal verschoben

London · Auf Boris Johnsons Schreibtisch in der Downing Street steht, so ist aus zuverlässigen Quellen überliefert, eine Büste von Perikles, dem griechischen Staatsmann aus dem antiken Athen. Mit Perikles’ Herrschaft verbindet sich das Goldene Zeitalter Athens.

 So viele Probleme, aber immer scheint er durchzukommen: Premier Boris Johnson.

So viele Probleme, aber immer scheint er durchzukommen: Premier Boris Johnson.

Foto: dpa/Tolga Akmen

Perikles ist für Johnson „der wahre Held“ und „Inspiration“. In einer neuen Biografie werden denn auch große Vergleiche zwischen Perikles und dem konservativen Regierungschef gezogen in Sachen rhetorisches Geschick, Persönlichkeit, Talent, Erfolg. Johnson selbst rief Anfang Januar ein „fantastisches Jahr für Großbritannien “ aus. Auf in eine „goldene Ära“, befreit von den Fesseln der EU.

Nur, die Vergangenheit ist bekanntlich eine andere Welt. Gerade eskalierte in Johnsons Team ein Machtkampf um den umstrittenen Berater Dominic Cummings, der als Architekt für für Johnsons Aufstieg und den Erfolg beim Brexit-Referendum gilt. Cummings wählte den großen Auftritt für seinen Auszug aus Nummer Zehn. Bumm! Ein Problem für den als unschlüssig und ideenarm geltenden Boris Johnson. Cummings war sein Chef-Einflüsterer. Nun versinkt die Regierung im Chaos, mitten in der zweiten Corona-Welle und kurz vor dem Brexit-Finale.

Die Pandemie forderte bislang mehr als 52 000 Tote, eine der höchsten Pro-Kopf-Raten der Welt. Die Regierung reagierte zu spät mit einem Lockdown, das Land rutschte in die schlimmste Rezession seiner Geschichte, taumelte mit kaputtgespartem Gesundheitssystem und miserablem Führungsmanagement durch die Krise. Zurzeit ächzt das Königreich erneut unter einem Lockdown.

Auch der Brexit scheint zum Desaster zu werden. Die Verhandlungen um ein Handelsabkommen zwischen London und Brüssel enden jede Woche mit denselben Phrasen. Eigentlich muss bis Ende dieser Woche eine Einigung stehen, damit die Parlamente den Deal ratifizieren können. Eigentlich. Abseits des Brexit sorgten etliche Kehrtwenden der Regierung für Schlagzeilen, etwa um Essensgutscheine für arme Kinder.

Der jüngsten Umfrage des Instituts Savanta ComRes zufolge liegen die Torys trotzdem noch immer vor der Opposition der Labour-Partei. 40 vor 36 Prozent. Wie kann das sein?

„Viele Wähler geben Johnson einen Vertrauensbonus, wenn es um Covid geht, weil die Krise so enorm ist“, sagt Politikwissenschaftler Anand Menon vom Londoner King’s College. Es gebe ein gewisses Verständnis dafür, dass die Pandemie für jeden Premier schwierig gewesen wäre. Anders sieht es beim Brexit aus. Johnson steht vor einem Dilemma, das sich durch den Sieg des EU-Freunds Joe Biden bei den US-Wahlen noch verschärft hat. Würde Johnson den Sprung in den Abgrund wagen, trotz der Warnungen aus der Wirtschaft? Jetzt, da Trump das Weiße Haus räumen wird und Hardliner Cummings ebenfalls Geschichte ist? Im rechten Tory-Flügel könnten zu weitreichende Zugeständnisse an Brüssel das Fass zum Überlaufen bringen. Doch gleichzeitig würde ein Scheitern Johnson „politisch äußerst verletzlich“ machen, sagt Menon. Es würde der Opposition in die Hände spielen. Dennoch: Was Johnsons Kritiker zum Verzweifeln bringt. Der Politiker komme immer wieder mit allem davon, meint Matthew Parris, früher selbst Tory und heute Autor.

 Kürzlich erklärte Ex-Staatssekretär Rory Stewart, Johnson ähnele keineswegs Perikles, sondern sei vielmehr „vielleicht der beste Lügner, der jemals als Premierminister dienen wird“, frustriert, dass das Volk jenem immer wieder verzeiht. Was Stewart unerwähnt ließ: Perikles’ Glanzzeit endete während des Peloponnesischen Kriegs – als sich eine pestartige Epidemie in Athen ausbreitete. 429 v. Chr. fiel Perikles der Seuche zum Opfer. Im April erkrankte Boris Johnson schwer an Covid-19. Gesundheitlich hat der Premier Corona überlebt.

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