Anschläge, Amok, Angst: Ist die Welt 2016 aus den Fugen geraten?

2016 ist ein denkwürdiges Jahr. Gefühlt täglich erreichen die Deutschen Horror-Meldungen über den neu entflammten Kalten Krieg, bestialische Terroranschläge, autoritäre Herrscher und solche, die es werden wollen. Steht die Menschheit wirklich am Ab grund?

Der Rückblick für das Jahr 2016 ist eigentlich schon Ende Juli voll. Die fürchterliche Silvesternacht von Köln, David Bowie , Bud Spencer , Götz George , Muhammad Ali , Genscher, Westerwelle, alle tot. Der Terror in Brüssel, Würzburg und Ansbach, ein neuer Kalter Krieg, der Putschversuch in der Türkei und das Ende der Demokratie am Bosporus, der Horror von Orlando, Nizza, München.

Die Briten verlassen die EU. Populistische Pöbler sind allerorten auf dem Vormarsch, Donald Trump hämmert an die Tür zum Weißen Haus, er könnte es wirklich schaffen. Die Flüchtlingskrise ist noch lange nicht geschafft, nach Wochen der Entspannung machen plötzlich Verbrecher aus Syrien und Afghanistan blutige Schlagzeilen. Wie werden die Geschichtsbücher wohl einmal auf diese Zeit zurückblicken?

Was die Dramatik in der Entwicklung der deutschen Politik angeht, fühlt sich der Historiker Paul Nolte an die Weimarer Republik erinnert. "Völlig unabhängig vom Programm, das eine Partei vertritt, irritiert es einen Historiker, wenn eine neue Formation aus dem Stand 24 Prozent der Stimmen erobert - wie die AfD in Sachsen-Anhalt im März", sagt Nolte. "Darin drückt sich eine quasi-revolutionäre Unruhe aus."

Der Philosoph Wolfram Eilenberger spricht von einer Zeitenwende und ähnlichen Schlüsseljahren wie 1967/68 und 1989/1990. Damals ging es um Freiheit und Mobilität. "Wir leben jetzt in einer Zeit der Verengung", findet er: "Ich denke schon, dass die politischen Konstellationen in Europa extrem gefährdet sind." Neu ist für ihn: Rein wirtschaftliche Argumente reichen nicht mehr aus, Wähler zu überzeugen, so wie es nach 1989 lange möglich war. Das habe die Entscheidung für den Brexit gezeigt. "Wir sind jetzt in einer Phase, in der kulturelle Identitätsfragen die Wirtschaftsfragen trumpfen." Das Schlagwort für die Geschichtsbücher ? "Renationalisierung", sagt Eilenberger. Die Rückkehr zum Nationalstaat also.

Mauerfall und Brexit-Votum, diese Linie zieht auch Charles Grant, Historiker und Direktor des Zentrums für europäische Reform. 1989 begann das Zusammenwachsen, jetzt kehrt sich die Entwicklung um: "Von jetzt an wird von Zerfall gesprochen werden statt von Zusammenwachsen." Aber entsprechen diese Analysen dem Lebensgefühl aller? Für die Jungen ist die Brexit-Entscheidung ein Schlag. Zehntausende Studenten gehen jedes Jahr ins Ausland, die Generation Erasmus lebt in internationalen WGs. Ihr ist der Blick nach innen, die Kleinstaaterei, fremd. Catriona McArthur (29), Schottin und Mitarbeiterin eines internationalen Förderprogramms in London, ist nach dem Brexit-Votum verzweifelt: "Noch nie habe ich mich so wenig britisch gefühlt."

Turbulente Zeiten? Es passiere gerade nicht mehr als sonst, das sei ein "Schein-Eindruck", sagt Eilenberger, Chefredakteur des "Philosophie Magazins". Die Nachrichtenlage 1914 sei beispielsweise ähnlich dynamisch und verbittert gewesen. Und eine Kultur des Hasses habe es auch schon immer gegeben. Sie sei nur medial kontrolliert gewesen. "Der Stammtisch vor 30 Jahren war ähnlich aggressiv und rassistisch wie heute Facebook ."

Der Publizist Jakob Augstein widerspricht vehement. Er hält den Ausnahmezustand für den neuen Normalzustand unserer Zeit: "Alles geschieht gleichzeitig. Alles fordert Mitgefühl, Nachdenklichkeit, Entschlossenheit, Aufmerksamkeit. Es ist zu viel. Zu viele Informationen zur gleichen Zeit." In einer Welt, die er für aus den Fugen geraten hält, sei Mitleid eine endliche Ressource: "Niemand verfügt über so viel Empathie, wie heute vonnöten wäre." Aber, mahnt Augstein: "Wir werden uns daran gewöhnen müssen. So wie sich ein Mensch, der vom Land kommt, an den Lärm der Stadt gewöhnen muss. Mit einem Unterschied: Eine Rückkehr aufs Land kann es für uns nicht geben."

Auch für den Soziologen Harald Welzer ist die Welt aus den Fugen geraten - zumindest unsere Welt: "Wir waren es bislang gewohnt, die Probleme außerhalb unserer Hemisphäre zu sehen. Jetzt sind sie hier, sie kommen zu uns." Europa sei, für alle, die es lange nicht glauben wollten, eben doch keine Insel der Glückseligkeit in einem Meer von Krisen, Konflikten und Katastrophen. "Jetzt merken wir, dass wir mit all dem verbunden sind", sagt Welzer: "Das hat auch mit der Kommunikation zu tun. Die Ereignisse erreichen uns heute viel schneller."

Amok , Attentate, all das konsumierten die Menschen heute ungefiltert und quasi in Echtzeit: "Die Ereignisse prasseln unentwegt und uninterpretiert auf die Leute ein. Nicht selten führt das dazu, dass wilde Phantasien oder Verschwörungstheorien die Diskussion bestimmen."

Auf die täglichen Schreckensmeldungen kann man auch ganz anders blicken. "Comedy entsteht ja immer aus Leiden und aus Tragödie", sagt der in London lebende deutsche Comedian Christian Schulte-Loh. Der 37-Jährige malt sich schon aus, wie es würde, falls Brexit-Boris Johnson auf einen US-Präsidenten namens Trump träfe: "Das sieht dann wirklich aus wie zwei Bond-Bösewichte." Auch der britischen Welt-Bestsellerautorin J. K. Rowling, die vor der Brexit-Abstimmung unermüdlich für die Europäische Union geworben hatte, ist der Humor nicht ganz verloren gegangen. Über ihre Landsleute schreibt die Harry-Potter-Erfinderin: "Es ist, wie mit dem Hochzeitsgast verwandt zu sein, der auf die Torte gekotzt hat. Es tut uns wirklich leid."

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